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Hier entstehen meine Briefspieltexte und werden sorgsam verwahrt, bis ich weiß, wohin sie sollen.
Es ist ausdrücklich erlaubt, Rechtschreibfehler sowie Fehler der Zeichensetzung zu korrigieren, genauso wie verloren gegangene Buchstaben richtig zu ergänzen und überzählige einzusammeln.

Vom Räblein, das auszog ein Rabe zu werden

Traum

Tempel unserer gütigen Etilia zu Kammhütten, Travia 1044 BF

„Räblein, es freut mich dich wiederzusehen“, begrüßte Líadáin ni Rían ihre Schülerin im Tempel erfreut, wurde dann jedoch sogleich merkwürdig ernst: „Ich spürte aber, das dir etwas Bedeutsames auf dem Herzen liegt. Was führt dich zu mir?“

Abwartend blickte sie Marbolieb Tempeltreu an.

„Ich... ich hatte einen Traum. Einen bedeutsamen Traum. Einen, den ich noch nie zuvor hatte“, berichtete die Novizin noch immer sichtlich aufgewühlt, „Ich versuchte zu laufen, kam aber nicht von der Stelle. Aber ich konnte sehen – weit sehen – den See gen Westen, die Berge gen Westen, den Großen Fluss. Ich überschritt den Großen Fluss und begab mich unter einem blutroten Mond gen Süden. Eine Welle der Erschauderung, der Verunsicherung überkam mich. Letztendlich erreichte ich das Hohe Gebirge und überquerte es. Weiter im Süden sah ich einen großen Raben inmitten einer riesigen Metropole, vielfach größer als Angbar. Der Rabe erschien mich zu erwarten. Ich irrte durch die Gassen jener gewaltigen Stadt. Als ich den Raben schlussendlich erreichte, breitete er als Willkommen seine Schwingen aus und nahm mich unter seine Flügel.“

Ein sanftes Lächeln zierte die Wangen der Geweihten.

„Glaubt Ihr... hm... glaubt Ihr, dass die Zeit gekommen ist?“, hob die Tempeltreu verunsichert an, „Glaubt Ihr, dass es nun Zeit ist nach... hm... Punin zu ziehen? Ich meine... ich bin doch noch... jung und... und muss noch viel lernen.“

„Ach Räblein, lernen wirst du hoffentlich dein Leben lang. Aber du hast viel erlebt in der letzten Zeit, wenn ich deine Briefe nur halbwegs richtig deute. Und glaube mir, es ist nicht ein bestimmtes Alter, welches du erreichen musst, damit Boron dich ruft. Es ist deine innere Reife und deine Erfahrung – und manchmal ruft der Herr einen auch, weil er erkennt, dass sein geweihter Diener wichtige Dinge in seinem Namen zu bewältigen hat.“

„Also denkt Ihr... das die Zeit nun gekommen ist?“, wollte Marbolieb noch immer verunsichert wissen, „Dass ich nun nach Punin ziehen soll um meine Weihe zu erhalten?“

„Die Antwort kennst du! Wie anders würdest du deinen Traum deuten, Räblein?“, erwiderte die Prätorin etwas schmunzelnd, weil es ihr gar allzu offensichtlich schien, „Nur ist es für mich gerade etwas schwierig, den Tempel für eine solch lange Reise zu verlassen...“

Die Novizin schaute ihre Lehrmeisterin einige Augenblick verständnislos an, ehe sie fragte, „Dass... dass heißt, dass Ihr mich nicht begleitet?“ Sie schluckte. „Aber... aber... aber das ist doch so üblich. Das ist immer so üblich und... und... und wer soll mich denn dann begleiten?“

Beschwichtigend nickte die Rían nun: „Selbstverständlich würde ich dich begleiten, Räblein, aber das müsste bis zum kommenden Frühjahr warten. Bald schon kommt der Mond des Herren und hernach wird der Winter auf dem Greifenpass einkehren. Ich könnte selbstverständlich einen der Brüder oder Schwestern hier im Tempel – oder aus Angbar – bitten... aber fast drängt sich bei mir der Gedanke, dass jene illustren Zwerge und der Ritter, mit denen du die letzten Monate umhergezogen bist, gute Begleiter wären?“ Und weil Marbolieb noch immer etwas verständnislos dreinblickte fügte die hinzu: „Einer von ihnen ist doch ein Geweihter des Ingerimm – oder Angrosch, wie er sagen wird?“

„Ja“, seufzte die Novizin da etwas schwermütig, „Er sagt immer Angrosch, aber Angrosch ist doch auch nur ein anderes Wort für den Herrn Ingerimm, welcher einer der Zwölfe ist. Aber dennoch... dennoch bin ich betrübt darüber, dass Ihr nicht mitkommen könnt. Gerne hätte ich Euch an meiner Seite gehabt.“ Marbolieb wirkte nachdenklich und auch ein wenig traurig. „Aber... aber ich werde Euch schreiben. Ganz bestimmt. Aber einen weiteren Glaubensbruder oder eine Glaubensschwester brauche ich nicht an meiner Seite, denn... denn keiner könnte Euch ersetzten und keiner von ihnen kennt mich so gut, wie Ihr es tut. Und Xuronim... Xuronim ist ohnehin unsere Stimme der Vernunft. Ein sehr vernünftiger Zwerg, auch wenn er den Herrn Ingerimm wohl immerzu Angrosch nennen wird.“ Wieder seufzte sie. „Ich muss ihn und die andere aber erst fragen. Ich meine... es ist ja nicht selbstverständlich, dass sie mich begleiten.“

„Wie gesagt; im kommenden Phexmond stünde ich dir zur Seite!“

„Aber wenn er mich doch jetzt zu sich ruft?“, warf Novizin da ein und zuckte etwas hilflos mit den Schultern.

Liadain nickte verständnisvoll, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern sagte: „Solange du aber unterwegs sein wirst, nimm einstweilen dies mit.“ Sie überreichte Marbolieb die Figur eines kleinen, aus weißem Holz geschnitzten Raben, welchen man an einem Lederband um den Hals tragen konnte. „Wir wissen nicht, woher es kommt oder was für ein Holz es ist. Es ist alt und zeigt meiner Ansicht nach das Symbol der Heiligen sehr gut. Es möge dir Halt geben in Situationen des Zweifel.“

„Habt dank“, die Novizin nahm den Raben entgegen und betrachtete ihn einen Augenblick aufmerksam, „Ich werde ihn immer bei mir tragen und immer an Euch denken.“

Beistand

Gegeben im Travia 1044 BF im Tempel unserer gütigen Etilia zu Kammhütten

An Xuronim, Sohn des Xerosch, Tempel der Flamme, Angbar

Werter Xuronim,
 
 
 
 
jüngst schickte mir mein Herr durch seinen Diener Bishdariel einen Traum. Es war ein Traum, den ich noch nie zuvor geträumt hatte. Einen, den man nur einmal in seinem Leben träumt. Und er war bedeutsam. Er ist bedeutsam. Sehr bedeutsam. Jener Augenblick, den wohl jeder Novize und jede Novizin herbeisehnt ist gekommen: Ich werde bald meine Weihe erhalten.

Hierzu ist es bei uns Dienerin des Herrn Boron üblich mit seiner Lehrmeisterin oder seinem Lehrmeister nach Punin zu Pilgern um vom Oberhaupt unserer Kirche (dem Raben von Punin) in den Tiefen des Gebrochenen Rades (unserem Haupttempel) geweiht zu werden.

Bedauerlicherweise kann meine Lehrmeisterin mich jedoch nicht begleiten und so wollte ich Euch bitten, werte Xuronim, da Ihr mich ja bereits durch unsere zahlreichen gemeinsamen Abenteuer gut kennt, mich an ihrer statt als geweihten Beistand nach Punin zu begleiten und mir in dieser bedeutsamen Zeit beizustehen.
 
 
 
 
In Freundschaft und stiller Hoffnung auf Eure Begleitung

Marbolieb Tempeltreu

Briefe an Marbolieb

(Erwiderung von Xuronim an Marbolieb)

Lieblingssalami

Travia 1044 BF

Auch wenn ich geglaubt hatte mir ausreichend Zeit für den Weg vom Greifenpass nach Rufenberg eingeplant zu haben, brauchte ich doch länger als erwartet und schaffte es leider nicht zu Beginn des Festes der eingebrachten Früchte, zu dem mich Grimrosch eingeladen hatte, sondern erst zwei Tage später. Irgendwie war der Weg doch weiter und beschwerlicher als ich erwartet hatte und so manche Kreuzung entpuppte sich als tückisch, genauso wie so manche Wegbeschreibung. Ob das bereits die erste Queste meines Herren war?

Ich erreichte Rufenberg erst am Nachmittag des dritten Travia. Das Fest war nicht zu verfehlen und so suchte ich meine Freunde. Grimrosch spielte jedoch mit den Musikern zusammen. Bram tanzte mit einer adretten Zwergin. Mein Blick fiel auf Eberhalm. Von der Reise sichtlich mitgenommen trat ich zu ihm und wurde sogleich von ihm begrüßt. Wir unterhielten uns kurz. Er riet mir das hiesige Bier mit etwas Schnaps zu trinken, da es so nicht schmeckte. Anscheinend mochte er es wohl nicht, besser Grimrosch erfuhr das nicht. Ich holte mir ein Hils und ging zu Nortalosch. Wir plauderten kurz und suchten dann die anderen, nur Xuronim konnten wir nicht finden.

So erzählte ich meinen Freunden – Xuronim ausgenommen, aber der wusste davon ja bereits – dass nun die Zeit gekommen sei und ich meine Weihe erhalten würde. Wie auch Xuronim erklärte ich ihnen, dass ich dafür nach Punin – also in den Außerkosch – pilgern musste, normalerweise in Begleitung meiner Lehrmeisterin, da diese mich aber nicht begleiten konnte, würde diese Aufgabe Xuronim übernehmen. Ich bat sie dennoch auch darum, mich zu begleiten, schließlich konnte keiner sagen, was alles auf dem Weg nach Punin noch geschehen würde. Außerdem war so eine Reise durchaus gefährlich. Natürlich wollte ich nicht nur deswegen meine Freunde bei mir haben, sondern ich wollte sie an meiner Seite wissen, weil sie meine Freunde waren. Und sie wollten mich gerne begleiten. Ich war erleichtert.

Kaum hatte ich geendet, da spielten die Musiker wieder auf und Bram wollte erneut mit jener Zwergin tanzen, mit der er auch zuvor bereits getanzt hatte, doch da gab es noch einen weiteren Zwerg, der mit ihr tanzen wollte. Erst schubsten die beiden sich, dann rauften sie und schlussendlich gelang es dem Schreiber des Kosch-Kuriers die Oberhand zu erlangen. Die Zwergin tanzte mit ihm. Ob er jetzt den... hm... Eberhalm machte? Irgendwann an diesem Abend muss wohl Xuronim zu uns gestoßen sein, aber keiner von uns konnte sich daran erinnern.

Am nächsten Morgen planten wir unsere Reise. Von Rufenberg wollten wir nach Rohalssteg reisen, dort mit mit der Fähre über den Angbarer See nach Valpurg übersetzten, dann wollten wir weiter nach Xennarode, dort den Großen Fluss überqueren und dann einfach nur der Ferdoker Landstraße folgen. Ich wollte gerne spätestens bis zum 30. Boron – der Nacht der Ahnen – im Punin sein. Es erschien machbar. Grimrosch reiste natürlich mit seinem Wagen und daher würden unsere Mahlzeiten wie immer vorzüglich sein, kein Vergleich zur kargen Kost in den Boron-Tempeln.

Noch am Tag unseres Aufbruchs erreichten wir Rohalssteg. Am nächsten Tag waren wir in Rhôndur, wir hatten uns dann doch für einen anderen Weg entschieden und nich den Angbarer See zu queren. Am Ende des vierten Tages gelangten wir nach Nadoret. Am Tag darauf durchquerten wir die Ferdoker Mark und erreichten am sechsten Tag unserer Reise Ingen. Dort lösten wir den ersten und vielleicht sogar wichtigsten Teil unserer Queste: Grimrosch fand eine neue Lieblingssalami! Alle waren glücklich und zufrieden, obgleich dieses Umstandens und eigentlich hätten wir es auf sich beruhen lassen konnen, aber das war ja noch was: Meine Weihe.

Ich schlief schlecht und ich träumte: „Die Nacht ist dunkel und kalt. Ich fröstelte aber nicht nur wegen der Kälte. Irgendetwas Grauenerregendes streift umher. Eine Bestie, wie ein wilder Stier! Ich kämpfe – aussichtslos! Ich fliehe – verzweifelt! Der rote Mond zieht auf – ich fürchte mich, aber der Schrecken senkt sich.“

Als ich schweißgebadet erwachte, graute bereits der Morgen. Ich unterrichtete meine Freunde von meinem Traum, doch draußen war nichts. Bram erinnerte sich jedoch daran, dass hier vor geraumer Zeit schlimme Dinge geschehen waren. Das lag allerdings bereits ungefähr 30 Götterläufe zurück. Wir entschlossen uns nach unserem Frühstück den Boron-Tempel aufzusuchen. Dort traf ich auf die Prätorin Korva Ginjâtal. Während ich ihr etwas in den Tempel folgte, hielten sich meine Freunde höflich zurück. Erst betete ich zu meinem Herrn und fühlte mich sicher. Sehr sicher. Ich befragte die Prätorin nach dem, was damals geschehen war. Viel sagte sie nicht. Es sei entsetzlich gewesen. Ja, entsetzlich. Was damals allerdings genau geschehen war und wer es verursacht hatte sagte sie nicht, letzteres schien sie einfach auch nicht zu wissen. Ich befragte sie nach dem roten Mond. Bei den damaligen Ereignissen haben es jedoch keinen roten Mond gegeben. Es sei aber auch seitdem hier nichts mehr geschehen. Hier zumindest nicht. Dafür aber in Rottan. In Rottan sei etwas geschehen. Einer ihrer Glaubensbrüder sei dorthin aufgebrochen. Was geschehen war, auch das sagte sie nicht. Allerdings verwies sie auf den jungen Mann – kaum älter als ich – der aus Rottan hierher gekommen sei. Viel sei jedoch nicht aus ihm herauszubekommen, er sage lediglich stets „Oh-Ei-Pax“.

Ich wandte mich dem Mann zu. Er hieß Peregrin. Ich befragte ihn, was geschehen war. Es war schwierig. Oh, Schweigsamer, warum gelingt es mir manchmal einfach immer noch nicht die verwundeten Seelen der Menschen zu erreichen? War dies wieder einer deiner Questen? Er war der Freund des getöteten Jaspers. Er sei davongelaufen. Ich versuchte ihm gut zuzureden, es gelang mir jedoch nicht. Wahrscheinlich fühlte er sich schuldig, meinte Grimrosch da, schließlich hätte er seinen Freund alleine zurückgelassen. Ich versucht es erneut, aber auch dieses Mal hatte meine Befragung wenig Erfolg. Kurz bevor wir jedoch gingen, wir wollten nach Rottan und uns die Sache genauer ansehen, offenbarte er dann noch, dass es groß wie ein sehr großer Mann gewesen sei, mit Pelz und einem Gebiss wie ein Bluthund, dabei stark wie ein Stier. Ich versprach ihm zusammen mit meinen Gefährten der ganzen Angelegenheit auf den Grund zu gehen.

Bruder Bendrich

8. Travia 1044

Sogleich machten wir uns nach Rottan auf, dass wir noch am selben Nachmittag erreichten. Der Himmel war bedeckt. Es nieselte leicht. Ob uns die Götter damit schon eine Warnung geschickt hatten? Oh Schweigsamer, langsam beginne ich überall deine Zeichen zu sehen…

Wir kamen im „Fuchs & Hase“ unter. Xuronim nahm sich dort ein Einzelzimmer, während uns anderen ein Platz im Schlafsaal genügt. Anschließend entschieden wir uns den Hopfentempel aufzusuchen um dort nach den entsetzlichen Vorkommnissen zu fragen. Die Vorsteherin des Peraine-Tempels Laiga Mikail begrüßte uns freundlich. Sie erzählte uns, dass Peregrin seinen toten Freund Jasper in den Peraine-Tempel gebracht habe, bevor vor voller Angst und Furcht davongelaufen sei. Der Tote sei von Bisswunden übersät gewesen als ob ihn viele wilde Tiere angegriffen hätten. Seine Kehle sei herausgerissen worden. Ob es ein Wolf gewesen sei? Doch schloss sie diese Vermutung kurz darauf aus, denn ein Wolf fraß seine Opfer… Bei einer kräftigen Kürbissuppe fügt sie dann noch hinzu, dass auch Schafe und Rinder angegriffen worden seien. Es seien Tiere unterschiedlicher Bauern gewesen, keines davon sei jedoch gefressen worden. Die Menschen trauten sich mittlerweile nachts nicht mehr hinaus. Weiter wusste sie noch zu berichten, dass das Blut des Toten fast gänzlich schwarz gewesen sei. Das war ungewöhnlich!

Jasper habe zu einer Gruppe Halbstarker gehört, zu der auch Helkor Zwirnbusch (Sohn wohlhabender Rinderbauern), Hesina Kelrun (Tochter des Bürgermeisters), Gosperbald Winhügler (Sohn von Rübenbauern) und Mirja Dunghanger (kleine Schwester Jaspers, seit kurzem verschwunden) gehört hätten. Zusammen hätten sich diese Gruppe immer herumgetrieben, wie es eben junge Leute tun. Ob sie sich auch in den Ruinen von Vadocia (Alt-Ferdok) oder im Badehaus herumgetrieben hatten, konnte sie freilich nicht sagen.

Nachdem wir unser Mahl beendet hatte, suchten ich zusammen mit Bram und Xuronim den Boronanger auf. Dort, so hatte uns die Prätorin mitgeteilt, sei Bruder Bendrich gerade dabei den Toten zu begraben. Die anderen machten sich in die Taverne „Rübensaft“ auf um sich dort umzuhören.

Auf dem Weg zum Boronanger nieselte es. Erst leicht, dann zunehmend stärker. Der Wind wurde stärker. Der Himmel zog sich mehr und mehr zu. Es dämmerte bereits. Es war Bram, der zuerst die Gestalt am Boden liegen sah. Ein dunkle Gestalt. Noch bildete ich mir ein, dass es zwar Bruder Bendrich sein konnte, aber dass es nicht bedeuten musste, das er tot war. Doch er war es. Als wir den mit Eichen umsäumten Boronanger betraten und an das frische Grab, auf dem mein Glaubensbruder lag, eilten da sahen wir es bereits: Bruder Bendrich war tot. Ermordet. Seine Kehle war aufgerissen. Sein Blut war ganz dunkel, ganz so wie es die Prätorin bei dem toten Jasper beschrieben hatte. In der Hand hielt mein Glaubensbruder ein Boronsrad aus Holz. Er hatte es wohl einst als Anhänger an einer silbernen Kette getragen. Die Kette fanden wir zerrissen. Den Anhänger hatte er so fest in seiner Hand oder viel eher Faust gehalten haben, dass die Ecken ganz blutig waren. Oh Schweigsamer, was verlangst du mir nur ab? Dort lag einer meiner Glaubensbrüder! Und er war tot! Tot!

In jenem Augenblick sah Bram etwas zwischen den Bäumen huschen. Für einen kurzen Augenblick sahen auch wir es: Es war ein junger Mann, doch er war viel zu schnell für einen Menschen. Ob es ein Wolfsmensch gewesen war? Ein Besessener? Ein von den Göttern Verfluchter? Was war hier eigentlich los?

Ich sah mir Bruder Bendrich genauer an. Er schien mehrere gebrochene Rippen zu haben, als habe ihn jemand kräftig gestoßen. Die Kratzer an den Armen zeugten davon, dass er sich hatte schützen wollen. Und die klaffende Wunde am Hals rührte wohl ursprünglich von einem Biss. Und zur Krönung schien etwas am frischen Grab gescharrt zu haben. War es Bruder Bendrich gewesen? War es das Monster gewesen? Während Bram und Xuronim den Körper des Bestatteten freilegten, einfach weil sie kräftiger waren als ich, ging ich zu einem der nächsten Höfe und holte einen Karren. Dort erzählte man mir, dass man Mirja Dunhanger noch heute am oder auf dem Boronanger gesehen habe. Es war jene Mirja, bei der uns sie Peraine-Geweihte gesagt hatte, dass sie verschwunden sei. Was war hier los? Volbard Dunghanger begleitet mich mit einer Karre. Als wir zusammen den Boronanger erreichten, war er augenblicklich von Angst erfüllte. Als er Xuronim am Grab Jaspers sah, da war er sichtlich verwirrt. Ich erklärt ihm – und hoffe, dass du es mir verzeihen kannst, Schweigsame – dass wir das Grab wieder verschlossen, nachdem es jemand geöffnet habe. Nachdem dieses getan war, luden wir meinen toten Glaubensbruder auf die Karre auf und brachten ihn in den Peraine-Tempel. Wir nahmen auch die Habseligkeiten des Geweihten an uns. Auf dem Weg durch das Dorf trafen wir niemanden. Es war ungewöhnlich still. Die Peraine-Geweihte hatte bereits geruht und war sichtliche erschüttert als wir ihr vom Tod Bendrichs berichteten. Sie erklärte uns, dass er am Grab gewacht habe, weil er etwas von den Göttern verfluchtes als Ursache für dessen Tod vermutetet hatte. Auch sie spüre es, erklärte sie uns, es schien ihr, als sei es mitten unter ihnen. Auch mir war nicht wohl. Ich blieb bei meinen Glaubensbruder im Tempel. Ich konnte ihn doch nicht alleine lassen! Bram und Xuronim gingen zu den anderen in die Taverne „Rübensaft“, am nächsten Morgen wollten wir uns wieder hier treffen.

Oh Schweigsamer, was für eine Prüfung hast du mir da zugedacht? Bin ich ihr denn überhaupt gewachsen? Was soll ich nur tun? Und was ist, wenn ich scheitere? Oh Herr, bitte steh mir bei! Und bitte geleite meinen Bruder sicher über das Nirgendmeer! Ich bete für ihn. Für ihn und seine Seele.

(...)

9. Travia 1044

(...)

Aus dem Tagebuch einer Boron-Novizin

Die Verfluchten von Thargen

Die Verfluchten von Thargen (Teil 1)

Ende Ingerimm 1043, Angbar

Ich war bereits einige Tage im Boron-Tempel zu Angbar, um dort in einem der Bücher zu studieren, die wir im Tempel unserer gütigen Etilia zu Kammhütten leider nicht besaßen, da hörte ich, wie ein kaiserlicher Gardist ganz aufgeregt zu einen meiner Brüder kam. Aufgeregt berichtete der Mann, der sich als Huppert Ingentreu vorstellte, von Geistern, die ihn heimsuchten und vor denen er sich durch uns Hilfe und Schutz versprach. Er kam von der Feste Koschgau.

Ich sprach bei Boronelda Wandelgast vor und bat darum, diesen Geistererscheinungen nachgehen zu dürfen. Die Prätorin hörte sich alles geduldig an. Sie kennt mich schon mein ganzes Leben. Ich erzählte ihr auch von den sich in letzter Zeit gehäuften Träumen, deren Bedeutung ich mir bis jetzt nicht erschließen konnte:

Kornähren und Gras.
Beide sind da, wie die Natur es will, fallen dem Schnitter, werden gefressen vom Schaf.
Die Zeiten sind hart, umbarmherziger denn je fallen sie.
Sie begehren auf. Wollen stärker werden und nähren sich aus unheiliger finstrer Quelle.
Sie werden schwarz und stark. Schlagen Kerben in die Sensen, hinterlassen blutige Striemen an den Schnauzen der Schafe.
Nur eine einzige Kornähre trinkt nicht vom schwarzen Wasser, bleibt golden und aufrecht aber weint bitterlich.
Doch auch wenn die Halme nicht fallen, so werden sie doch schwächer und schwächer.
Irgendwann bleiben nur noch dunkle Schatten, sie können keine Scharten mehr schlage, aber sie heulen, da sie nie fallen durften.
Und die Schafe meiden ihre Nähe.
Längst verblasst ist auch die goldene Ähre, verdorrt und vertrocknet, jedoch nicht zerfallen liegt ihr strohgelber Halm dar und bisweilen weht der Wind ein leises Weinen von ihr fort.

Der Rabe fliegt über's Land. Hinweg über Hügel und Wälder. Am Horizont die schroffen Gipfel des Koschgebirges.
Der Blick fällt auf eine trutzige schwarze Burg auf schroffem Fels.
Er schreckt auf, unter ihm:
Viele Schreie vieler Verlorener.
Ein Ruf nach Hilfe!

Ob es sich bei der Burg aus dem Traum um die Feste Koschgau handelte? Ein Zufall war das Auftreten des Gardisten von Koschgau ganz sicher nicht. Auch Boronelda stimmte mir da zu. Und so ließ sie mich ziehen.

Ich reiste entlang des Grevensteiges. Meine erste Nacht verbrachte ich in Salzmarken. Am nächsten Tag zog ich weiter nach Rohalssteg und übernachtete in der Herberge „Perainestuben“, die unweit des Stadttores lag und recht günstig war. Dort traf ich auf die Zwerge Bram, der für den Kosch-Kurier schrieb, auf Xuronim, einen Angrosch-Geweihten und auf Grimrosch, ein Koch, der einen großen, schwarzen Hund mit Namen Bosch dabei hatte. Weil es in der „Perainestuben“ kein Bier gab, beschlossen wir im „Zum Amboss“ noch das ein oder andere zu trinken. Viel mehr tranken die Zwerge noch das ein oder andere. Ich erzählte vom Grund meiner Reise. Der Schreiber des Kosch-Kuriers fand das natürlich höchst interessant und wollte mit mir ziehen. Auch Xuronim meinte, dass man dem auf den Grund gehen müsse. Ebenso Grimrosch, dessen Hund ich streicheln durfte und der mir im Gegenzug dafür auf meine Robe sabberte. Ich konnte ihm nicht böse sein, er war einfach zu flauschig und noch dazu hatte er eine durch und durch borongefällige Fellfarbe. Erst spät gingen wir zu Bett.

Nach einem ausgiebigen Frühstück am nächsten Morgen zogen wir zusammen nach Rhôndur. Dort stiegen wir in der „Weißgans“ ab, wo wir am Abend auf den Ritter Eberhalm Bockzwingel auf Bockenbergen trafen. Interessanterweise berichtete er uns davon, dass auch er etwas von Geistern gehört habe. Geister, die mit Ketten rasselten. Und so schloss auch er sich uns an.

Es ging also weiter nach Koschtal und von dort aus weiter in Richtung Burg Koschgau.

Die Verfluchten von Thargen (Teil 2)

Ende Ingerimm 1043, Thargen

Wir waren ungefähr eine Tagesreise von Koschgau entfernt, als wir auf eine ziemlich verzweifelte junge Schäferin trafen. Ihre Schafe grasten auf einer durch eine niedrige Mauer begrenzte Wiese. Alle Schafe hielten sich diesseits der Mauer auf, nur eines, ein kleines, weißes Lämmchen hatte es wohl irgendwie geschafft über die Mauer zu springen und rief nun aus Leibeskräften nach den anderen. Wie gelähmt stand das junge Mädchen da und trauerte um das Lämmchen, da doch lediglich jenseits der Mauer war. Kurzentschlossen wollten wir ihr helfen, doch sie erklärte uns, dass das Lämmchen verloren sein und kein Mensch es retten könne, da schreckliche Dinge geschähen, wenn ein Mensch die Mauer überquere. Da Zwerge nun einmal keine Menschen sind, waren sie es, die über die Mauer kletterten und das Lämmchen zu befreien suchte, dabei stellten sie fest, dass eines seiner Beinchen irgendwo festhing. Es gelang ihnen schließlich es zu befreien und dabei stellten sie fest, dass es sich in einem Schädel verhakt hatte.

Es war keineswegs ein normaler menschlicher Schädel, dafür waren die Zähne zu spitz. So wie ich das von diesseits der Mauer beurteilen konnte, musste er dort schon lange liegen. Ich bat den Angrosch-Priester sich weiter umzusehen. Er fand noch mehr Knochen, darunter eine zerborstene Wirbelsäule und weitere Rippenknochen.

Wir übergaben das Lämmchen seiner Schäferin und genau in jenem Augenblick, trat es ihr so heftig gegen die Stirn, dass sie ohnmächtig zu Boden sank. Wir brachten sie zusammen mit dem Lämmchen zu ihrer Muhme, von der sie uns bereits zuvor erzählt hatte. Konkret war es Ritter Eberhalm der sie auf dem Rücken seines Pferdes nach Hause brachte, ein Umstand, der ihm im Nachhinein schon fast als Eheversprechen ausgelegt wurde. Ich trug das Lämmchen.

Lisara Solhauer, die Muhme des Mädchens, war ganz aufgewühlt. Sie war nicht die Mutter des Kindes, sondern hatte sie lediglich bei sich aufgenommen. Sie erzählte uns von dem verfluchten Dorf – das verfluchte Thargen – das jenseits der Mauer liegt, also dort, wo das Lämmchen war: In den Magierkriegen habe eine Magierin, eine gewisse Madane, die Schülerin des Zulipan von Punin war, die Thargener unempfindlich gegenüber Verletzungen gemacht, sodass sie nicht sterben konnten. Offensichtlich schien, dass sie nicht sterben konnten, weil sie ihre Seelen verloren hatten, sie folgten Zulipan in eine Schlacht, zurück blieben jedoch ihre Geisterhüllen. Auch heute sollen dort im Dorf noch ihre Seelen umgehen, weil der Pakt – sie sprach auch von Fluch – nicht gebrochen worden sei. Angeblich kämen die ruhelosen Seelen jedoch nicht über die Mauer oder aber sie waren jenseits der Mauer ohne Macht, so genau wusste sie das nichts.

Die Nacht über verbrachten Xuronim und ich am Bett des bewusstlosen Mädchens.

Die Verfluchten von Thargen (Teil 3)

Ende Ingerimm 1043, Thargen

(...)

Die verschwundenen Kinder

Die verschwundenen Kinder (Teil 1)

Rahja 1043

Wir reisten über Neuensteinigen nach Koschtal. Dort kamen wir im „Zum lachenden Kobold“ unter. Auf dem Zwergenmarkt kaufte sich Bram eine neue Waffe, nachdem seine andere beschädigt worden war. Ritter Eberhalm wollte sich ein neues gebrauchtes Schwert kaufen. Xuronim suchte den Ingerimm-Schrein auf. Auf dem Markt fiel uns ein Aushang auf: Gunelde Kieswetter, 8 Götterläufe, war verschwunden. Wer das Mädchen wohlbehalten zu den Eltern zurückbrachte, erhielte 20 Dukaten.

Die Familie Kieswetter ist sehr bekannt in Koschtal. Sie handelt mit Erz. Wir suchten die Eltern des Mädchens auf, wir konnten doch nicht zulassen, dass das Schicksal des Kindes ungeklärt blieb! Sie besaßen ein großes und sehr schönes Haus. Vom Vater ließen wir uns das Mädchen beschreiben: 1,30 Schritt groß, rotblondes Haar, Sommersprossen. Zuletzt sei sie vor gut 16 Tagen gesehen worden, als die Mutter zu Bett gebracht habe. Am nächsten Morgen sei sie nicht mehr da gewesen. Die Büttel wurden bereits informiert. Bisher gäbe es jedoch von Gunelde keine Spur, es seien aber wohl auch noch andere Kinder verschwunden. Alle ungefähr in Guneldes Alter. Das machte uns hellhörig, das konnte doch kein Zufall sein, oder? Die Rohalswächter seien bereits dagewesen, erfuhren wir weiter, aber sie hätten nichts gefunden. Also war wohl keine Magie im Spiel. Der Nachtdiener jedoch meinte, dass da irgendetwas gewesen sei. Der Mond, erklärte er, stand hell am Himmel, ungewöhnlich hell für einen abnehmenden Mond.

Wir schauten uns Guneldes Zimmer an. Ob etwas anders sei, als in jender Nacht? Die Zofe sagte darauf, das dass Bett gemacht worden und das Zimmer aufgeräumt worden sei. Weiter stellte sich nun heraus, dass zwischen dem Verschwinden der Kinder mehrere Tage gelegen hatten. Der Nachtdiener schien mehr zu wissen, aber er redete einfach nicht, ganz gleich wie gut ich ihm zuzureden versuchte. Wie das Mädchen aus dem Haus gekommen war, blieb unterdessen unklar, es gab einfach zu viele Möglichkeiten. Kurz bevor wir gingen, sicherte uns Guneldes Vater dann noch zu, uns mit allen Mitteln zu unterstützen.

Wir gingen zurück ins Gasthaus. Dort trafen wir auf Xuronim, den wir eilige über die zurückliegenden Ereignisse in Kenntnis setzten. Zusammen suchten wir die Büttel auf, dort erfuhren wir, dass erst gestern ein weiteres Kind, nun das fünfte, verschwunden sei. Alle Kinder seien ungefähr im selben Alter. Alle seien nachts verschwunden, außer bei einem Kind, da war es nicht ganz klar. Alle Kinder scheinen freiwillig ihre Häuser oder viel mehr ihre Betten verlassen zu haben. Die Mutter eines der Kinder, sei in unserem Gasthaus anzutreffen, ansonsten sollten wir uns an Korporal Retterich Eisengießer von der Nachtwache wenden.

Zuerst suchten wir die Mutter im „Zum lachenden Kobold“ auf, trafen sie jedoch nicht an, da sie sich bei der Arbeit auf dem Markt befand. Grimrosch ließ Bosch an etwas von dem verschwundenen Kind schnuppern, daraufhin führt uns das borongefällige Tier zu einer Bäckerei. Ja, genau. Der Hund führte uns zu einer Bäckerei. Ob er die Backwaren gerochen hatte? Dort sollten immer wieder Kinder bereits in der Nacht anstehen, um Törtchen zu bekommen.

Die verschwundenen Kinder (Teil 2)

Rahja 1043

Wir suchten Korporal Retterich Eisengießer auf und fanden ihn schlussendlich auf dem Marktplatz. Er meinte, dass etwas in der Backstube nicht passe, denn erst seit kurzem backe der Bäcker unfassbar köstliche Törtchen, doch er sei ganz sicher nicht in der Lage hinter einem Kind hinterherzujagen. Weiter wusste er, dass er Hilfe durch seinen Neffen habe, der sei allerdings nicht der hellste, dafür aber kräftig.

Da es schon spät war, gingen wir zum Gasthaus „Zum lachenden Kobold“ zurück. Natürlich mussten wir daraufhin erst einmal etwas essen, danach befragten wir die Mutter eines der Kinder, die sich im selben Gasthaus aufhielt wie wir. Sie sei gekommen um mit ihrem Sohn hier arbeit zu finden. Dann – vor zwei Tagen – sei er am Morgen einfach weg gewesen. Wir versprachen ihr, der Sache auf den Grund zu gehen.

Am nächsten Morgen wollten wir zwar früh aufstehen, ruhen jedoch so tief in deinen Armen, Schweigsamer, dass wir nicht erwachen. Als wir dann endlich aufwachten, gingen wir eilig zur Bäckerei um noch eines dieser köstlichen Törtchen zu bekommen. Doch dort warteten bereits ein halbes Dutzend Leute. Wir reihten uns also ein, bekamen aber leider keinen Törtchen mehr und kauften daher einige süße Teilchen und drei Brote. Die Brote schmeckten nicht besonders gut, aber auch nicht besonders schlecht. In den Teilchen stecke ein seltsames Gewürz, das wir nicht so recht zuordnen konnten. Ob da Magie im Spiel war? Wir überlegten, ob der ansässiger Magier Goramir Grobhand von Koschtal uns da weiterhelfen konnte, mussten aber feststellen, dass wir bereits alle süßen Teilchen aufgegessen hatten und es nun nichts mehr gab, was man hätte analysieren können. Daran scheiterte auch unsere Überlegung, ob es sich vielleicht um eine unheilige Zutat handelte. Tja, die Teilchen waren aber auch einfach zu köstlich!

Am Mittag suchten wir den Bäcker auf. Er schien ein bescheidener Mann zu sein, im Gegensatz zu den Preisen seines Gebäcks. Auf die Frage, warum er erst seit kurzem Törtchen backe und wie er auf die Idee gekommen sei, erklärt er uns, dass er vor nicht allzu langer Zeit das Rezept in einem Büchlein hinter einem Regal im Keller gefunden habe. Es stamme von seiner Großtante, die vor über 20 Götterläufen zu Boron gegangen sei und lediglich für die Familie gebacken habe. Er habe es im Rondra gefunden und dann ausprobiert. Widerwillig ließ er uns auch in seine Backstube. Bram fand dort einen Schuhabdruck auf einem Regal. Es war ein sehr kleiner Fuß. Daraufhin erklärte der Bäcker, das da eben manchmal Fußabdrücke seien. In der Backstube gab es ein Fenster nach draußen. Es war vergittert, hatte einen Vorhang und Holzläden.

Mir fiel jedoch noch etwas anderes auf. An der Treppe – zu der ich eigentlich überhaupt nicht hin wollte – entdeckte ich eine Falltür im Boden. Das Problem an der ganzen Angelegenheit war allerdings, dass ich wohl die einzige war, die sie sehen konnte. Bram ertastete zwar etwas an der Stelle, an der die Falltür war, konnte sie aber auch dann nicht sehen. Einzig Grimrosch erkannte sie dann wohl auch. Seltsam, oder nicht? Wie konnte das nur möglich sein? War es Magie?

Der Bäcker hatte inzwischen die Geduld verloren und hatte die Büttel geholt. Erstaunlich schnell waren sie vor Ort und begleiten uns hinaus. Auch sie hatten die Falltür nicht gesehen.

Nun suchten wir also dann doch den Magier Goramir Grobhand von Koschtal auf. Er ist ein ziemlich verschrobene Magier – wie wohl viele. Es scheint mir geradzu als müsste man verschroben sein, um Magier sein zu können. Er redet mit seinen Kristallen und scheint gar nicht wirklich im Diesseits zu sein. Dennoch half er uns. Er überreichte mir einen Schlüssel, der in jedes Schloss passe und ließ in Eberhalms Streitkolben einen Elementar einziehen, denn wir mit dem Ausruf „Kristallo hilf“ rufen konnten. Dann verabschiedeten wir uns und kehrten ins Gasthaus zurück.

Die verschwundenen Kinder (Teil 3)

Rahja 1043

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Was eine Ritterin werden will

Weitere Texte

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Gründungsmythos Haus Rían

Rían und Támlinn

Tamlinn und Rian.jpg

Rían war ein junger Ritter aus dem Hause Bennain. Er liebte es auf die Jagd zu gehen und trieb sich nur allzu gerne allein in der Wildnis herum. Dort lauschte er dem Rauschen der Blätter im Wind, dem Gesang der Vögel, dem Plätschern der Bäche und all den anderen Geräuschen des Waldes, die sonst keinerlei Beachtung genossen.

Eines Tage, da lauschte er wieder. Die Sonne blinzelte immer wieder zwischen den dicht belaubten Bäumen hindurch, der Waldboden war mit allerlei blühenden Blumen bedeckt. Es roch nach Harz und Moos und Wald. Er stieg von seinem Pferd, um etwas aus dem nächsten Flusslauf zu trinken. Das Wasser war klar und rein. Und während er sich über den kleinen Strom gebeugt hatte, vernahm er ein geradezu liebliches Geräusch. Er lauschte. Es war ein durchdringendes Geräusch. Er lauschte. Ein bekanntes Geräusch, auch wenn er es noch nie gehört hatte. Er lauschte. Und es war ihm tatsächlich, als riefe ihm jemand beim Namen: „Rían. Mein Rían. Wo bist Du? Kannst Du mich hören? Schon so lange suche ich nach Dir! Rían, bist Du da? Rían. Mein Rían.“

Der Ritter stieg auf sein Pferd und ritt dem bezaubernden Klang nach. Er ritt bei Tag und er ritt bei Nacht. Immer weiter und weiter. Bis er schließlich vor einer jungen Frau stand, für deren Schönheit und Anmut er keinerlei Worte finden konnte. Er stand einfach nur vor ihr und schaute sie an und schaute und schaute und schaute.

„Mein Name ist Támlinn“, hob die Fremde mit einer lieblichen Stimme an. In ihrer Hand hielt sie ein silbernes Horn.

„Ich habe von dir gehört! Du bist eine Fee“, erwiderte Rían und Támlinn nickte, „Und das… ist das ein... ein Feenhorn?“

„Es ist ein Feenhorn“, antwortete die Fee, „Und es kommt aus dem Feenreich, sowie auch ich. In vielen Wäldern ließ ich es bereits erklingen, gen Praios und gen Firun, gen Rahja und gen Efferd, doch Du bist der Erste und Einzige, der seinen Klang hörte und ihm folgte.“

Nun schaute Rían ein wenig verdutzt drein. Eine Fee hatte er noch nie gesehen und dann war sie noch so schön, so wunderschön und wie durch einen Zauber, doch ganz ohne jeglichen Einsatz von Magie, verfiel er der Fremden augenblicklich, entbrannte sogleich in heißer und inniger Liebe zu ihr, zu einem Wesen, das so schön war, dass er keine Worte fand um es zu beschreiben und so anmutig, dass er seinen Blick einfach nicht von ihr wenden konnte.

„Ich hab es aus dem Feenreich mitgebracht, von dort komme ich. Dort wurde ich geboren und war Knappin bei der Königin, deren liebste Ritterin ich nun bin. Das Leben dort ist schön und leicht, es gibt keinen Mangel und keine Krankheiten, kein Verderben und keinen Tod. Doch ich sehne mich nach etwas Anderem...“, ihr Blick fiel auf Rían, „... nach etwas, dass ich nur hier in Deiner Welt finden kann. Etwas, dass so allumfassend und so stark ist, dass es mich wieder und wieder in Deine Welt zieht. Ich sehne mich nach der Liebe. Nach Deiner Liebe!“

Rían schluckte angesichts des Geständnisses der Fremden schwer: „Und die Feen, lassen sie Dich denn nicht ziehen?“

„Nicht aus freien Stücken. Wie alle Feen bin ich mit einem Zauber an das Feenreich gebunden, den es erst zu brechen gilt. Bei Tag kann ich zwar durch die Wälder streifen, doch bei Nacht muss ich zurück in meiner Welt sein.“

„Und es gibt keinen Weg, diesen Zauber zu brechen?“

„Doch! Aber nur ein aufrichtiger, tapferer und kluger Recke kann mich befreien. Nur einer, wie Du einer bist, Rían. Du, der Du nicht nur der Einzige bist, der meinen Ruf hörte sondern ihn auch erhörte. Nur Du und nur Du allein kannst mich befreien. Nur Deine Liebe zu mir ist stark genug, um das Band zum Feenreich zu durchtrennen und gleichzeitig ein neues, wesentlich stärkeres zu knüpfen.“

„Ich werde alles tun, alles um Dich aus den Händen der Feen zu befreien, denn Du bist mir das Liebste auf ganz Dere, meine einzig wahre Liebe und mein Leben ist nur vollkommen, wenn Du es mit mir teilst, wenn Du es mit mir auf ewig teilst“, versicherte Rían mit Sehnsucht im Herzen. Und so schworen die beiden sich nicht nur ewige Treue, sondern versprachen sich auch die Ehe.

„In der Nacht zwischen der - wie ihr es nennt - Nacht der Ahnen und dem Tag der Toten musst Du erneut hierher kommen, nur in dieser einen Nacht zur Praiosstunde reitet die Feenkönigin mit ihrem Hofstaat aus. Allen voran reitet die Königin selbst, ihr Pferd mit Glöckchen behängt, dahinter ihre Damen, ihre Knappen und Edelmänner, gefolgt von ihren Rittern und Ritterinnen, unter denen auch ich reite. Unter ihnen allen, wirst Du mich erkennen, an dem schneeweißen Pferd, das ich mein eigen nenne und an dem Handschuh, den ich an meiner Linken trage, nicht jedoch an meiner Rechten. Und dann ist es Zeit, Rían - zieh mich von meinem Pferd und halt mich fest. Ganz fest. So fest Du kannst. Lass mich nicht los. Ganz gleich was geschieht: Lass mich nicht los!“, geradezu flehend sah sie ihn an, „Ihr Schlachtruf wird über Dich hinwegfegen und sie werden mich in etwas abscheuliches verwandeln, wieder und wieder, doch Du musst mich halten, so fest Du kannst, wie auch immer ich aussehe und was auch immer ich sein werde. Sei versichert, was auch immer ich sein werde, niemals werde ich Dir ein Leid zufügen. Niemals. So wirst Du mich für immer aus ihren Händen befreien.“

Erneut versprach Rían all dies zu tun, obgleich er sich fürchtete, denn Feen waren zwar schöne, aber auch unheimliche und nicht zuletzt durchaus gefährliche Wesen und er hatte keinerlei Erfahrung mit ihnen. Er war nicht mehr und nicht weniger als ein einfacher Ritter, der sich nach seiner Liebsten sehnte. Doch sein Herz schlug nur für sie und das machte ihn mutig und stark, denn klug war er immer schon gewesen. So küssten sich die beiden und gingen auseinander.

Und so geschah es: In jener Nacht kam er erneut an diesen Ort, versteckte sich im Schatten des Dornenbaums und wartete. Der Flusslauf glitzerte im sanften Licht des Mondes beängstigend, die Büsche und Sträucher warfen verstörende Schatten auf die Erde und die Bäume raschelten unheimlich mit ihren Ästen. Und als die Praiosstunde kam, da hörte er zuerst die Glöckchen und sah dann ein gleißendes Licht. Zitternd zog er seinen Umhang enger um sich und schaute angestrengt in das Licht. Zuerst kam die Königin, sie war von bezaubernder, aber unnatürlicher Schönheit und ritt auf einem kohlrabenschwarzen Pferd. Ihr folgten ihre Damen, ihre Knappen und Edelmänner, schwatzend und lachend. Den Schluss bildeten ihre Ritter und Ritterinnen, alle gekleidet in das Grün des Waldes und alle mit einem silbernen Horn. Einige ritten auf schwarzen Pferden, einige auf braunen, aber es gab nur ein einziges schneeweißes Pferd, nur eines und die Reiterin trug an ihrer Linken einen genauso schneeweißen Handschuh, nicht jedoch an ihrer Rechten. Sie ritt elegant auf ihrem Ross und drehte dabei niemals ihren Kopf, ihr Blick ging immer gerade nach vorne und selbst aus der Entfernung erkannte er sie, erkannte sie an ihrer Schönheit und an ihrer Anmut. Da sprang Rían aus seinem Versteck heraus, riss die Ritterin an ihrem Umhang von ihrem Pferd und hielt sie fest, ganz fest.

„Támlinn ist fort!“, rief die Königin, deren kohlrabenschwarzes Pferd auf die Hinterhand sprang nur um dann von ihr zum Stehen gebracht zu werden, „Támlinn ist fort!“

Und der Blick der Königin fiel auf Rían, der Támlinn fest umschlungen hielt. Da verwandelte sich seine Liebste plötzlich in einen großen, grauen Wolf, der sich heftig zur Wehr setzte und immer wieder nach ihm zu schnappen versuchte. Doch er ließ sie nicht los. Er hielt sie fest. Ganz fest. Im nächsten Augenblick war sie ein brennendes Strohbündel, dessen Flammen in seinen Ohren knisterten und ihn zu versengen drohten. Doch er ließ sie nicht los. Er hielt sie fest. Ganz fest. Dann hielt er unvermittelt eine riesige Schlange, die sich aufgeregt züngelnd aus seinen Armen zu winden versuchte und die er nur mit größter Mühe darin hindern konnte. Doch er ließ sie nicht los. Er hielt sie fest. Ganz fest. Nun verwandelte die Königin seine Liebste in eine Krähe, die mit ihrem spitzen Schnabel nach ihm zu hacken und mit heftigen Flügelschlägen gegen sein Gesicht das Weite zu suchen versuchte. Doch er ließ sie nicht los, schloss seine Augen und ließ nicht los. Er hielt sie fest. Ganz fest. Da verebbten plötzlich die Flügelschläge. Er schlug seine Augen auf und erkannte in der Krähe seine einzig wahre Liebe, die er noch immer fest in seinen Armen hielt.

Da drehe sich die Königin um, sie hatte verstanden, dass sie verloren hatte. Sie verwandelte Támlinn in ihre eigentliche Gestalt zurück und rief: „Rían, Rían, wenn ich gestern gewusst hätte, was ich heute weiß, dann hätte ich meiner Tochter Támlinn ihre blauen Augen genommen und ihr welche aus Glas gegeben; wenn ich gestern gewusst hätte, was ich heute weiß, dann hätte ich meiner Tochter Támlinn ihr liebendes Herz genommen und ihr eines aus Stein gegeben; wenn ich gestern gewusst hätte, was ich heute weiß, dann hätte ich meine Tochter Támlinn niemals auf diesen Ausritt mitgenommen und sie wäre auf ewig bei mir geblieben, als mein treueste und beste Ritterin und meine Tochter.“

Da tauchte die aufgehende Praiosscheibe den Horizont allmählich in dunkelblaues, weiches Licht und der Hofstaat der Feenkönigin machte sich eilig daran, seinen Ausritt zu beenden und so verklang das Klingen der Glöckchen langsam in der Ferne, bis es schlussendlich erstarb. Da hielt Rían Támlinn noch immer in seinen Armen und er hörte niemals damit auf.

Quellen

Frei nach den Erzählungen

Im Zeichen der Krähe

Im Anflug

1028

Gegen Mittag waren sie von der Otterburg aus aufgebrochen, da war der Himmel schon Wolkenverhangen gewesen. Bald darauf hatte es heftig zu regnen begonnen und Vater und Tochter hatten eilig Schutz unter einem Felsvorsprung gesucht. So standen sie nun da, blickten in den Regen hinaus, lauschten und warteten.

„Mutter wird bestimmt schrecklich weinen... ?“, verunsichert blickte das braunhaarige Mädchen zu ihrem Vater auf. Dieser war etwas überrumpelt, hatte er doch immer geglaubt, Rianod hätte ihre Tränen erfolgreich vor ihren Mädchen versteckt. Dem war aber wohl nicht so...

„Sie hat damals doch bei Ailsa schon geweint! Und als Scanlail dann auf die Bardenschule ging, da hat sie noch viel mehr geweint. Sie hat selbst bei Tara geweint. Mutter wird auch jetzt weinen...“, fuhr sie fort und schaute geradezu nachdenklich in den Regen. Ein paar verirrte Tropfen liefen an ihrer schwarzen Cappa hinab. Die Pferde machten sich über das wenige, aber feuchte saftig grüne Gras her.

„Sie...“, sein Herz war schwer, „...sie liebt euch eben und daher fällt es ihr schwer, von euch Abschied zu nehmen.“

„Ich weiß“, erwiderte sie geradezu stolz, „Ich weiß. Aber Ihr habt mich doch auch sehr lieb und trotzdem weint Ihr nicht, Vater.“

Der Ritter blickte zu seiner Tochter herab und fühlte sich ertappt. Es war nicht das erste mal, dass es ihm so ging. Es schien manchmal gerade so, als könnte sie in einen hineinschauen. Ob seine Tochter ein Talent dafür hatte? Ein besonderes Talent? Ein unheimliches Talent?

„Ich...“, stammelte er nur, „Ich...“

Nun blickte auch er in den Regen und wusste so gar nicht, was er nun eigentlich sagen oder nicht sagen sollte oder vielleicht sogar musste. Wenn nicht jetzt der geeignete, der richtige Zeitpunkt war, wann würde er dann sein?

Der Regen lief ihm durch sein dunkles, kurzes Haar. Er schluckte schwer. Wie sollte er mit seiner Tochter über etwas sprechen, über das er nicht einmal mit seiner Frau hatte sprechen können? Dabei war es sich nicht einmal sicher, ob sie nicht vielleicht etwas ahnte. Ja, vielleicht. Vielleicht hatte es eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen beiden gegeben, nicht über etwas zu sprechen, was keiner von ihnen verstand. Schweigen gegen Schweigen.

„Als du geboren wurdest, war es tiefer Winter. Wir waren eingeschneit. Du weißt ja, wie die Winter hier oben auf dem Greifenpass sind. Es war so ein Winter, er war nicht anders als andere auch: Wir waren abgeschnitten und vollkommen auf uns alleine gestellt“, hob er an und dachte etwas wehmütig an jenen Winter zurück. Eine unangenehme Gänsehaut begann seine Arme hinaufzukriechen.

„Es war in solch einem Winter, da wolltest du unbedingt geboren werden, dabei hättest du noch Zeit gehabt. Du warst so klein, Nurinai, so winzig und so schwach, nicht einmal geschrien hast du. Deine Mutter lag drei Nächte und zwei Tage in den Wehen und nichts was die Heilkundige versuchte, konnte ihr Linderung verschaffen und auch ich konnte nur zusehen, hilflos zusehen. Dann in der dritten Nacht – es war ganz still, so still als würde ein jeder den Atem anhalten – da kamst du zur Welt. Niemand sagte etwas, aber wir alle wussten, wie es um dich stand. Alle weinten. Du warst so schwach, dass du nicht einmal trinken konntest. Wir alle waren so erschöpft, wir weinten uns in den Schlaf. Aber ich, Nurinai, ich konnte nicht schlafen. Ich konnte einfach nicht schlafen, obwohl ich so schrecklich müde war. Ich wollte dich nicht verlieren! Natürlich hab ich versucht durch den Schnee zu kommen, aber ich musste einsehen, dass es nur meinen eigenen Tod bedeutet hätte und da war ja noch deine Mutter und deine beiden Schwestern...“

Er schluckte schwer und Tränen glitzerten in seinen Augen. Der Regen war inzwischen schwächer geworden.

„Und dann...“, fuhr er fort und versuchte die Gänsehaut von sich abzuschütteln, wie man Staub aus seinen Kleidern schüttelte, „...es war mitten in der Nacht, da klopfte jemand an die Tür. Ich wachte auf, ich war wohl doch eingenickt. Es war ein lautes, durchdringendes Klopfen und dennoch rührte sich nichts und niemand im Haus. Deine Mutter schlief. Sie hatte sich in den Schlaf geweint. Du lagst noch immer in ihren Armen. Es klopfte wieder und wieder und mit jedem mal unnachgiebiger. Ich ging also und fragte durch die geschlossene Tür: ‚Wer ist da?‘

‚Eine reisende Geweihte, die Obdach für die Nacht sucht‘, wurde mir erwidert.

Ich öffnete und erkannte tatsächlich eine Geweihte und war im ersten Augenblick so entsetzt, dass ich ihr die Tür wieder vor der Nase zuschlug. Ich zitterte am ganzen Körper, mir war schrecklich übel, doch ich besann mich und ließ sie schlussendlich ein.

‚Golgari ist schon unterwegs, Euer Gnaden, da trifft es sich vielleicht ganz gut, wenn er hier auf eine Dienerin des Schweigsamen trifft‘, sagte ich.

Sie schenkte mir ein warmes, jedoch zurückhaltendes Lächeln: ‚Früher oder später ereilt uns alle dasselbe Schicksal.’

‚Einen Grabsegen werdet Ihr ja wohl sprechen können‘, entgegnete ich ihr verbittert.

Wieder lächelte sie: ‚Ihr habt viel geweint, Hoher Herr, und seht erschöpft aus, was immer euch und die Euren auch belastet, ich kann Euch zur Seite stehen, denn wir Diener des Herrn Boron sind für wesentlich mehr da, als dafür Tote zu verscharren, vor allem wenn man nicht irgendeine Geweihte ist, sondern eine Etilianerin.‘

Erst da erkannte ich die zwei silbernen einander zugewandten Raben. Ich war zugegebenermaßen ein wenig verdutzt, hatte zwar schon von den Etilianern gehört, aber noch nie einen gesehen und das obwohl es sehr viele Boron-Geweihte im Kosch gibt. Ich bat sie also nach dir und deiner Mutter zu sehen und was sie fand, war noch schrecklicher als ich erwartet hatte. Als sie die Decke deiner Mutter zurück schlug, lag sie in ihrem eigenen Blut...“, seine Stimme brach, er wischte sich die nahen Tränen aus den Augen, „Sie schenkte mir ein warmes Lächeln und schickte mich warmes Wasser holen. Das tat ich, brauchte aber eine Ewigkeit bis ich die Glut entfacht hatte und noch einmal genauso lange bis das Wasser endlich warm war. Dann badete sie dich und wusch deine Mutter.

Als sie damit fertig war, sagte sie: ‚Ihre Frau und ihre Tochter brauchen nun Ruhe. Lasst sie schlafen, Hoher Herr, und vertraut auf die Götter.‘ Es fiel mir schwer, aber was blieb mir anderes übrig?”

Er zuckte mit den Schultern.

„Sie bat um etwas zu essen, ich gab ihr Wurst, Brot und Käse und saß noch zusammen mit ihr in der Küche. Dort fiel ihr die Wunde an meinem Handrücken auf.“

Er hielt seiner Tochter seinen rechten Handrücken entgegen und mit ihren zarten Fingern fuhr sie über die feine Narbe und wie all die Götterläufe zuvor, durchfuhr sie ein merkwürdiges Kribbeln, wenn sie der feinen Linie in der Haut ihres Vaters folgte. Es war genau genommen mehr als ein Kribbeln, ein merkwürdiger Schauder. Diese Narbe hatte ihr Vater schon, seit sie sich erinnern konnte, schon immer.

„Dann... dann war es also gar kein Hund, der Euch gebissen hat, Vater?“, mit ihren unschuldigen blauen Augen schaute sie ihn an. Ihre Finger ruhten noch immer auf der Narbe.

„Ich muss es wohl selbst gewesen sein“, erwiderte er schulterzuckend und versuchte sich ein Lächeln abzuringen, „Obgleich ich mich nicht daran erinnern kann. Die Wunde war tief. Sie nähte sie. Ich spürte keinen Schmerz. Dann aß sie. Das ist das letzte, an das ich mich erinnere, bevor mich am nächsten Morgen das Geschrei eines Kindes weckte...“

„Das war ich, nicht wahr? Das war ich?“

Der Ritter nickte und Tränen liefen über seine Wangen: „Das warst du, Nurinai. Du schriest aus Leibeskräften und hattest erbärmlichen Hunger. Und auch deiner Mutter ging es besser, noch immer etwas schwach, aber...“

Er hielt einen Augenblick inne.

„Ich vergaß die Geweihte. Die Freude war zu groß. Am Abend jedoch, als ich zur Ruhe kam, da sah ich zum ersten Mal dieses Amulett – diesen schwarzer Karneol – um deinen Hals und ich erinnerte mich. Doch von der Geweihten gab es keine Spur. Es schien mir so, als wäre sie nie da gewesen. Doch jemand hatte etwas von Wurst, Käse und Brot gegessen. Jemand musste die Wunde an meiner Hand versorgt haben und jemand musste euch – deiner Mutter und dir – das Amulett umgelegt haben. Ich ging nach draußen, suchte Spuren. Doch der Schnee lag noch genauso da wie zuvor – strahlend weiß und makellos. Und weil ich keine Erklärung fand, habe ich nie jemand davon erzählt, denn ich war ja der Einzige, der sie gesehen und mit ihr gesprochen hatte.“

Mit großen Augen blickte Nurinai ihren Vater an.

„Manchmal, ja manchmal da bin ich mir einfach nicht sicher, ob... ob es nicht vielleicht doch nur ein Traum... nur Einbildung, nur... nur ein Wahn war. Aber dann, dann muss ich wieder an all die Ungereimtheiten, an all die... Fehler denken. Es kann nicht nur ein Traum gewesen sein, aber was war es dann?“

Er zuckte mit den Schultern.

„Ich habe an den Tempel in Punin geschrieben, der einzige Tempel der Etilianer. Ich wollte wissen, wer die Geweihte war und so schickte ich einen Brief mit ihrer Beschreibung und der Bitte, mir doch ihren Namen mitzuteilen, damit ich mich bei ihr persönlich Bedanken konnte. Ich wollte ihr doch nur meinen Dank aussprechen und davon erzählen, dass es deiner Mutter und dir gut ging. Ich schwöre dir, mehr wollte ich nicht. Doch sie konnten mir nicht sagen, wer es gewesen war. Die Etilianer sind viel unterwegs, fast ausschließlich reisende Geweihte. Aber sie versicherten mir, sich umzuhören. Ich hörte nie einen Namen, sie fanden nie heraus, wer es war. Mir scheint es gar manchmal so, als hätte es diese Geweihte gar nicht gegeben.“, er lachte und schüttelte angesichts seiner gerade getätigten Aussage seinen Kopf, „Seit dem spendete ich jeden Götterlauf eine größere Summe an die Etilianer – immer um deinen Tsatag.“

Da begann seine Tochter herzzerreißend zu weinen. Er schloss sie in die Arme. „Du brauchst nicht zu weinen! Nicht weinen, Nurinai!“, versuchte er sie zu beruhigen, „Nichts davon ist wichtig und für nichts davon kannst du etwas. Das einzig was zählt ist, dass du da bist, dass du lebst!“

Er hauchte ihr einen Kuss auf die Wange: „Vielleicht verstehst du jetzt, warum deine Mutter immer so weinen muss, wenn sie eine ihrer Töchter gehen lassen muss und warum sie es einfach nicht geschafft hat – bei keiner von euch – euch richtig zu verabschieden.“

„Ich hab euch so lieb!“, konnte das Mädchen nur wimmern, „So lieb! Einfach so lieb!“

Da hörte der Regen auf, die Wolken hatten die Praiosscheibe wieder frei gegeben, die nun ihre Tränen trocknete und ihre Herzen mit Zuversicht und Wärme erfüllte. Sie ritten weiter und sangen zusammen. Sie sangen ein altes koscher Wiegenlied.

Sie bogen von der Reichsstraße auf einen schmalen Pfad, dem sie ein ganzes Stück ins Gebirge hinein folgten. Doch irgendwann tauchte der in den bloßen Fels gehauene Tempel vor ihnen auf und Darian wurde mehr und mehr bewusst, dass der Augenblick der Trennung nahe war.

„Vielleicht darfst du das Amulett behalten, wenn du ihnen erzählst, dass du es von einer Geweihten erhalten hast, aber ich kann das natürlich nicht beweisen, ich kenne ja nicht einmal den Namen der Geweihten...“, schlug der Vater vor und hoffte seine Tochter würde ihn bei dieser Lüge nicht ertappen. Tat sie auch nicht. Sie umfasste das Amulett fest mit ihrer Rechten und erklärte mit einer Gewissheit, die ihn erschaudern ließ: „Sie hieß Nurinai, so wie ich.“

Ein Windhauch erfasste das braune Haar des Mädchens. Ein Windhauch, von dem der Vaters nichts spürte. Seltsam ergriffen blickte er zum Tempel.

Landung

[Ankunft im Tempel]

Federn lassen

Wie das Wasser nach einem kurzen Regenschauer in die Erde sickerte, so sickerte die Stille ganz langsam und allmählich in Darian von Trottweiher hinein. Ausgehend von den Zehen begann sie ihn zu durchdringen, füllte ihn immer mehr und mehr aus. Erst macht es ihn ruhig. Ganz ruhig. Sein Atem ging langsamer, seine Gedanken auch. Die Stille hatte etwas Beruhigendes. Er lauschte seinem Herzschlag, seinem eigenen Atem, nahm sich bewusster wahr als je zuvor.

Doch dann stieg die Stille immer weiter, stieg wie der Wasserpegel bei einer Flut, immer höher und höher und riss alles mit sich und die Strömung förderte selbst das zutage, was so lange am Grund getrieben hatte – Unterbewusstes und den unüberwindbaren Drang selbiges endlich auszusprechen.

Und da war er plötzlich, der Praetor. Ganz dicht neben ihm, als habe er gewusst, dass er reden wollte. Ob es so wie bei Nurinai war? Die gewisse Dinge einfach wusste?

„Ich muss mit Euch sprechen, Euer Hochwürden“, hob Darian da leise an, „Es geht um... um meine Tochter. Es gibt da etwas, was Ihr noch nicht wisst, aber... aber was Ihr wissen solltet, weil... weil ihr Leben daran hängt. Das Leben meiner Tochter. Denn sie ist nicht, wie andere. Sie ist... etwas Besonderes.“ In diesem Moment klang er selbst in seinen eigenen Ohren nur wie ein besorgter überfürsorglicher Vater, dem er kein einziges Wort glauben würde.

Er ließ sich jedoch davon nicht beirren und erzählte ihm leise die Geschichte rund um die Geburt Nurinais, so wie er sie zuvor auch seiner Tochter erzählt hatte, doch ihm verschwieg er die Wahrheit nicht: „Sie hat mir ihren Namen genannt, gesagt habe ich das nie jemanden und mit meiner Tochter erst auf dem Weg hierher über ihre Geburt gesprochen. Ich musste mit ihr sprechen, wenn nicht jetzt, wann denn dann? Doch die ganze Wahrheit konnte ich ihr nicht sagen, das brachte ich einfach nicht über mich, weil... weil ich die Ereignisse selbst nicht so recht verstehe, wie sollte ich sie da meiner Tochter erklären?“

Er hielt einen kurzen Moment inne, bis die Stille um ihn herum zu drückend wurde.

„Nurinai, so hieß sie. Zumindest stellte sie sich so vor. Nurinai, wie meine Tochter. Ein seltsamer Zufall, findet Ihr nicht? Oder war es gar kein Zufall? Vielleicht nur Einbildung? Im Nachhinein betrachtet, habe ich mich oft gefragt, was in dieser Nacht Traum und was Wirklichkeit gewesen ist, was Einbildung und was nicht? Aber das jemand in meinem Haus war, das stand außer Frage. Doch wer? Wer war es? Da waren schließlich keine Spuren im Schnee und ich war der Einzige, der sie gesehen oder gar mit ihr gesprochen hatte. Ich verschwieg die Ereignisse der Nacht, was hätte es auch geändert? Wichtig war doch, dass meine Frau und auch meine Tochter am Leben waren. Sie lebten! Gerettet von einer Dienerin des Herren von Tod und Schlaf.“

Darian macht eine Pause und holte Atem. Die ganze Geschichte zu erzählen, ermüdete ihn auf eine merkwürdige Art und Weise oder war es gar Erleichterung? Zum ersten mal seit jener Nacht vertraute er die damaligen Ereignisse jemanden an.

„Mir ließ es trotzdem keine Ruhe. Ich wollte mich bei dieser Geweihten bedanken, ihr davon berichten, wie meine Nurinai wuchs und gedieh. Und so schrieb ich an den Tempel der Etilianer in Punin. Ich schrieb an die Geweihte mit Namen Nurinai, doch...“, seine Stimme brach, „... eine Geweihte mit diesem Namen gab es unter den Etilianern nicht.“

Nun schaute er seinem Gegenüber direkt in die Augen, zog dabei mit zitternden Fingern einen schmalen, abgegriffenen Brief aus seiner Gürteltasche hervor und streckte ihn dem Praetor entgegen.

„Es ist der einzige Beweis, den ich habe“, erwiderte der Ritter, „Abgesehen von meinem Wort.“

Mit zitternden Fingern hielt er noch immer den Brief seinem Gegenüber entgegen.

„Es geht um ihr Amulett, den schwarzen Karneol“, eröffnete er schließlich, „Sie trägt ihn seit jener Nacht, hat ihn nie abgelegt. Sie hat mich nie gefragt, warum sie ihn trägt und seit wann. Ich weiß nicht so recht, warum sie mich nie gefragt hat, aber manchmal scheint sie unterbewusst Dinge zu wissen, die sie nicht wissen kann. Sie spricht ihr Wissen nicht aus, sie handelt einfach. Es ist beängstigend, unheimlich.“

Er schluckte schwer, die Situation war ihm sichtlich unangenehm, schließlich musste er den Praetor bitten für seine Tochter die Regeln zu brechen und konnte dabei nichts weiter ins Feld führen als seine eigene Erinnerung und seine Intuition.

„Ich weiß, dass jegliche Form von persönlichem Besitz verboten ist, Euer Hochwürden, und ich weiß, dass ich gewiss viel von Euch verlange, wenn ich Euch darum bitte, für meine Tochter eine Ausnahme zu machen, ich tu es trotzdem: Bitte lasst ihr das Amulett. Ich will nicht leugnen, dass sie an diesem Schmuckstück hängt, doch noch mehr hängt ihr Leben daran.“

[Antwort des Prätors]