Die Sage vom Rohalssteg: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 9. April 2022, 12:41 Uhr


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Ausgabe Nummer 8 - Efferd 1016 BF

Die Sage vom Rohalssteg

Beinahe sieben Jahre war es her, daß ich Ringval zuletzt gesehen hatte — damals, nach jener unsäglichen Geschichte in Notmark

So freute ich mich herzlich, als mich seine Nachricht erreichte: Er sei auf zum Turnier des Barons Salfriedjes, um ein paar Bauerntrampeln zu zeigen, wie man einen Pfeil fliegen läßt.

Ich änderte meine Pläne also und machte mich auf in das Lehen dieses Barons, welches „Rohalssteg“ geheißen wird und am Ufer des Angbarer Sees liegt, zu Füßen der Koschberge. Ich diente der Göttin nun schon manches Jahr, aber noch nie war mir der Name begegnet, und so rechnete ich mit wenig Bedeutendem. Vielleicht nahm Ringval an dem Turnier teil, weil sich kaum ein ernsthafter Konkurrent in diese Gegend verirrte?

Treu meinem Gelübde folgend wanderte ich zu Fuß. Bis Angbar hatte ich manch‘ Gesellschaft; Händler und reisende Handwerker, deren Weg über den Paß nach Albernia führte. Die Küste des Sees entlang aber war ich mutterseelenallein, und gerne ließ ich mich von der zauberhaften Atmosphäre einfangen. Zur Rechten rauhe, zerklüftete Berge, die verschneiten Spitzen weiß glitzernd, zur Linken feuchte grüne Marschen voll bunter Blumen, dahinter das blau leuchtende Wasser, wie es zum Bade einlud. Morgens krochen graue Nebel die Hänge empor, funkelnd im frühen Sonnenlicht. Manchmal, dachte ich mir, rächten sich die Berge für den kalten Morgengruß, indem sie schwere Felsblöcke zu Tal donnern ließen, die nun auf den Wiesen und im See herumlagen wie die Murmeln eines Riesen.

Am zweiten Tag nach Angbar überraschte mich die Dunkelheit weit weg vom nächsten Weiler. Ich sah mich nach einem geeigneten Schlafplatz um und fand mitten zwischen einigen großen Blöcken einen alten Schiffssteg, der weit bis in die Wiese hinein reichte. „Kein schlechtes Dach,“ dachte ich und machte es mir bequem darunter. Ich notierte einige metaphysische Spekulationen, die mir die Göttin eingegeben, in mein Reisejournal, dann löschte ich die Öllampe und wiegte mich bald in süßesten Träumen.

Mitten in der Nacht weckte mich ein eigenartiges Gefühl. Die Luft war seltsam warm und feucht. Das Madamal schien silberhell vom Himmel. In der lauen Brise war ein Laut wie vielstimmiges Flüstern, und der See lag glatt wie ein Spiegel. Ich wickelte mich aus den Decken und stemmte meinen müden Körper auf den Holzsteg. Ich traute meinen Augen nicht:

Schon abends schienen mir die großen Blöcke eigenartig geformt; nun aber hatten sich Fratzen und Klauen gebildet, und aus steinern Mäulern kam jenes Flüstern, das mich geweckt hatte. Um die Steine aber schwirrten Dutzende Irrlichter wie Motten um die Kerze.

Ich wäre ein schlechter Diener meiner Göttin, hätte ich nicht versucht, das Flüstern zu verstehen. Bald erkannte ich, daß die Fratzen mit verschiedenen Zungen sprachen. Einige murmelten auf Garethi:

Zwei Dinge gehen
Zwei Dinge stehen
Zwei Dinge kommen
Hast du‘s vernommen?

Andere wisperten in Bosparano:

Da sind zwei Brüder.
Was der eine gibt,
Nimmt der andere wieder.

Die dritten aber benutzten eine Sprache, die mir zeitlebens nicht begegnet war.

Ich fühlte wohl, daß hier etwas höchst bedeutsames vor sich ging. An Schlaf war nicht zu denken, geheuer war‘s mir hier auch nicht. Ich packte meine Siebensachen und wanderte durchs Dunkel weiter.

Frühmorgens in der Dämmerung erreichte ich einen Hof. Die Bäuerin war eben aufgestanden, um die Kühe zu melken. Ich grüßte sie und bat um etwas Milch, dann erzählte ich von meinem nächtlichen Erlebnis. Sie gewahrte meine Ratlosigkeit und begann zu erzählen:

„Was Ihr gesehen habt, Euer Gnaden, hat unserer Gegend den Namen gegeben — dies ist der Rohalssteg.

Vor vielen hundert Jahren, als die Garether ihn vom Thron vertrieben hatten, sammelte Rohal seine Freunde und Schüler am Ufer des Angbarer Sees. Er wollte Abschied von ihnen nehmen, denn es war Zeit, daß er zu den Göttern zurückkehrte, woher er gekommen war. Da versammelten sie sich also: Zauberer und Schriftgelehrte, Priester, Barden und Heiler; Dutzende der größten Köpfe des ganzen Reiches. Alle strömten herbei, um noch einmal die Worte des göttlichen Weisen zu vernehmen.

Aber noch einer hatte den Ruf Rohals vernommen: Der Namenlose in seiner Hölle sah seine Stunde kommen. Lange war ihm dieser Mensch verhaßt gewesen, der dem Reich soviel Ruhe und Frieden gebracht hatte. Nun glaubte er, ihn verderben zu können, wenn Rührung und Schmerz des Abschieds die Kräfte des Weisen gefangennahmen. Und der Erzfeind sandte seine neun fürchterlichsten Dämonen zu diesem Behuf.

Rohal hatte derweil seine Jünger ermahnt zu Liebe und Brüderlichkeit, damit die Zeit der Blüte auch nach seinem Weggang noch anhalte. Nun trat er auf den hölzernen Steg, wo ein goldenes Schiff mit den Schwingen eines Vogels wartete, um ihn zu den Göttern zu tragen. Die Menge drängte sich zum letzten Gruß heran — da zuckten feurige Blitze vom Himmel und säten Tod und Verderben unter die Versammelten. Rohal hob den Blick und sah die Schergen des Namenlosen am Himmel hangen; ihre scheußlichen Fratzen spien Vernichtung herab. Freund um Freund sank neben dem Weisen zu Boden, der Steg war von Leichen bedeckt. Als der letzte fiel, triumphierten die Dämonen und richteten ihre Augen auf den Göttlichen. Da fuhr ein Krampf durch seinen ganzen Leib, ein Schrei löste sich aus seiner Kehle in einer fremden Sprache. Die Unholde erstarrten vor Entsetzen. Sie versuchten zu fliehen, aber die Macht Rohals zog sie unwiderstehlich an, rammte sie um den Steg in den Boden und verwandelte die fürchterlich Schreienden in schwere, leblose Felsblöcke.

Als er dies vollbracht hatte, setzte sich Rohal auf den Steg und weinte um seine verlorenen Freunde. Dann aber erhob er sich und stieg in das wartende Schiff, das seine Schwingen ausbreitete und ihn hinweg trug von Dere nach Alveran. Eines Tages aber, nach dem Ratschluß der Zwölf, wird er am selben Orte wiederkehren, und in ganz Aventurien wird für immer Friede herrschen.“

Bis hier hin hatte ich schweigend zugehört. Nun aber wurde meine Neugier zu stark: „Die Felsen sind also die Schergen des Namenlosen. Was aber hat ihr Flüstern zu bedeuten?“ „Die besiegten Dämonen“, sagte die Frau, „müssen nun dem Guten dienen. In Vollmondnächten erwachen sie, und sie flüstern Rätsel, die noch kein Mensch lösen konnte. Wer sie aber löst, dem wird der weise Rohal erscheinen, und bittet er ihn um Hilfe, so wird sie ihm nicht verwehrt bleiben.“

„Zwei der Rätsel habe ich wohl verstanden“, wandte ich ein, „eines aber war in einer mir gänzlich unbekannten Sprache.“

„Oh, ja, Euer Gnaden, man sagt, das dritte Rätsel sei in der Sprache, die die Götter selbst in Alveran sprechen, und niemand hat es bis heute übersetzten können!“

Das schien mir nun ein reichlich unnützes Orakel, das sich doch gar nicht beschwören ließ, und kopfschüttelnd verabschiedete ich mich von der Frau. Ich grübelte und grübelte, während ich weiter zur Burg des Barons wanderte, und plötzlich kam mir ein Gedanke. Kannten nicht die Bewohner Araniens eine Sage, wonach in der Steppe einst Nandus selbst eine Bibliothek errichtet hatte? Wenn irgendwo die Sprache der Götter beschrieben sein könnte, dann in den Aufzeichnungen des Sohnes der Göttin! Ich mußte diese Stelle bei Gelegenheit nachlesen…

(Aus „Dichtung oder Wahrheit?“, Artikelserie im „Hesindespiegel“, von Hetter Sindarin, Kuslik, 18 Hal)

Auch wir wissen nicht, ob diese Legende wahr ist. Manches spricht dagegen; kennt man doch mindestens vier weitere Orte, an denen Rohal verschwunden sein soll. Wichtige Zeugen glauben ihn in der berüchtigten Gorischen Wüste verschollen, während andere gar behaupten, der Weise wandere heute noch auf Dere! Fest auf den Wahrheitsgehalt dieser Sage berufen sich aber die Magier vom „Orden vom Magischen Recht in Rohals Namen.“ Die in diesem Bund geeinten Meister des Weges der Rechten Hand hatten sich ursprünglich wohl zusammengefunden, um bis zur von ihnen fest erwarteten Rückkehr des Weisen die Magie in seinem Sinne zu bewahren. Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte hat sich der Orden jedoch von Rohalssteg abgewandt, und in Angbar ein Domizil gefunden, von wo aus sie — in zuweilen drastischer Rigorosität — die Prinzipien der Weißen Magie aufs eifrigtste verfechten. Ein weiteres Kloster steht im tobri- [Der Rest ging leider verloren]