Willkommen zuhause - willkommen daheim: Ankunft auf Adlerstein
Noch drei Stunden lang stiegen sie steil bergan, ehe sich die Bergwände zu den Seiten zurückzogen. Rechterhand türmte sich das Gerazimmassiv auf, und erste dünne Rauchfahnen kündeten von menschlicher Besiedlung. Die Wasser der Warna, jenes weiter unten so beschaulichen Flüsschens, gischteten ein Dutzend Schritt neben dem Pass in zahlreichen Stürzen talwärts und zauberten so manchen Regenbogen in das morgendliche Licht.
Und dann kam die Stadt in Sicht, rechts des Flusses in einem ausladenden Talkessel gelegen und von den Hängen des Berges eingefasst, als halte der Fels sie wie ein kleines Juwel in der Hand. Trotz der recht wehrhaft wirkenden Mauern wirkte die Stadt einladend und gemütlich, doch die Gruppe ließ die Brücke rechterhand liegen und wandte sich statt dessen dem Fels zu, der sich auf dem anderen Ufer über die Stadt erhob.
„Der Adlerstein mit der gleichnamigen Burg“, erklärte Roban mit einem Nicken auf das Gemäuer, das mehr als nur metaphorisch über der Stadt thronte.
„Sieht ziemlich...wehrhaft aus“, urteilte Ladislaus stirnrunzelnd. Mit den vorspringenden Redouten und Kasematten und den zahlreichen großen und kleinen Plattformen wirkte die Wehranlage wirklich überdimensioniert, trotz der Bedeutung des Passes, den sie bewachte.
„Ja, da hat der letzte aus dem Haus von Roterz sein ganzes Silber verjubelt. Einige glauben, er habe geahnt, dass Krieg kommen würde, und die Burg deshalb dermaßen ausgebaut. Wirklich fertig ist er nie geworden, so viel wirft die Baronie einfach nicht ab. Und die Burgbesatzung... na ja, Schweigen ist halt Gold!“
Sie erklommen den gewundenen Burgpfad, der für potentielle Angreifer schon ein erstes Hindernis darstellte, und blickten hinauf zu den riesig wirkenden Mauern.
„Mit ein paar Rotzen auf der Mauer würde man jeden Angreifer einfach vom Pfad fegen können!“
Sigismund unterstrich seine Worte mit einer Bewegung der flachen Hand und einem Pfeifen.
„Ja, wenn man denn Rotzen hätte! Der einzige Rotz läuft einigen Jungs von der Burgwache aus der Nase!“ grinste Roban, als sie sich dem Tor näherten. Er pfiff auf zwei Fingern, und die Gestalt vor der Mannpforte schreckte hoch.
„Bolzbold, du fauler Sack!“ brüllte er. „Die Pike hoch und die Arschbacken zusammen! Und melde deinem Herrn, dass sein Jüngster samt Begleitern eintrudelt, und das sofort oder noch schneller!“
Der derart Gemaßregelte verschwand eilfertig durch die Mannpforte, die er dabei einfach offen ließ, was Roban ein Augenrollen entlockte.
„Heilige Rondra, die könnten das Gemäuer nicht mal gegen eine Hundertschaft Koschfrettchen verteidigen. Wir könnten reinspazieren, die Bude ausräumen und fröhlich von dannen ziehen.“
„Na ja, vermutlich kommt auch selten ein Wehrheimer Schleifer daher, oder?“ lachte Ladislaus, als er aus dem Sattel glitt.
„Ein oder zweimal im Jahr“, brummte Roban, „wenn ich Zeit dafür finde. Aber da ist kaum was zu retten. Mal sehen, wie lange sie brauchen, um das Tor zu öffnen.“
Entgegen der Schwarzmalerei mussten sie nicht lange warten, ehe man innen das Zurückziehen des Riegels hörte und einer der Torflügel aufschwang. Neben drei Wachen, die sich um eine besonders stramme Haltung bemühten, schritt ein gutgekleideter Mann auf sie zu, wohl beinahe zehn Jahre älter als Roban, und vollführte eine kurze Verneigung in Richtung Ladislaus.
„Rondrolf Grobhand von Koschtal, derzeitiger Verwalter der Baronie Roterz. Mit wem habe ich das Vergnügen?“
Roban war bereits angekündigt worden. Ladislaus war aufgefallen, dass die beiden Brüder sich nicht begrüßten, sondern sich nur einen Blick zugeworfen hatten. Auch wenn sie nicht so taten, sollten sie einander eigentlich kennen, er hingegen brauchte nicht damit zu rechnen, erkannt zu werden. Zu viele Jahre ist er nicht mehr im Kosch gewesen. Er saß ab und seine Begleiter folgten seinem Beispiel. Während er sich standesgemäß verneigte, knieten Sigismund und Marano hinter ihm. Auf ein Zeichen verneigte sich auch das Schlachtross. Sigismund und seine Mannen sowie das Schlachtross trugen die Farben des Hauses Wildreigen.
„Die Zwölfe zum Gruße, Euer Edelgeboren, mein Name ist Ladislaus Gabrom Nöttel von Wildreigen; ich werde begleitet von meinem Waffenknecht Zsigmond Mihai Bălănuță und meinem Pagen Marano Sirion von Ährengatter. Sigismund Balanutz, wie er landläufig genannt wird, stammt aus dem Bornischen und Marano von Ährengatter ist Tobrier. Ich selbst stamme gebürtig aus Tosch Mur. Mit meinem Gefolge bin ich gerade erst aus Tobrien in den Kosch zurückgekehrt.“
Er verneigte sich erneut vor seinem Gegenüber als er fortfuhr:
„Ich erbitte für die meinen und mich das Gastrecht auf Adlerstein.“
„Es soll uns eine Ehre sein, Euch und Eurem Gefolge dieses zu gewähren, Wohlgeboren.“
Eine weitere Verneigung folgte den Worten, begleitet von einem einladenden Wink zum geöffneten Burgtor.
„Wenn Ihr mir folgen möchtet, so könntet Ihr Eure Tiere im Stall unterbringen, während ich dem Baron Euer Eintreffen ankündige. Bitte mir zu folgen.“
„Ich kenne den Weg, Rondrolf“, grollte Roban ungeduldig. „Sag du Vater Bescheid, wir schaffen die Tiere in den Stall, und wir sehen uns im Rittersaal.“
Robans Bruder holte kurz Luft, als wolle er etwas erwidern, hielt dann aber inne und schüttelte nur den Kopf.
„Benimm, Roban, Benimm! Dies ist keine Kaschemme, wo man absteigt, die Finger an den Hut legt und direkt in den Schlafsaal stapft. Ein klein wenig Höflichkeit und Form wirst ja sogar du ertragen können.“
„Pfff“, machte der so Getadelte nur, nahm sein Pferd am Zügel und führte es ungefragt durch das Tor in den Innenhof, wiederum von einem Augenrollen begleitet.
„Ich würde mich für Roban entschuldigen“, wandte Rondrolf sich noch einmal an Ladislaus, „wenn ich nicht genau wüsste, dass sein gesamtes Umfeld derlei Gebaren kennen und ertragen gelernt hat. Seid versichert, dass er in unserer Familie eine Ausnahme darstellt und nicht die Regel. Aber immerhin – er wird Euch in den Rittersaal führen, sobald ihre Tiere versorgt sind. Hasmut, du führst Wohlgeboren und seine Getreuen in den Stall und weist den Stallburschen an, die Tiere zu versorgen wie unsere eigenen.“
Einer der Wächter nahm mehr schlecht als recht die Hacken zusammen, nuschelte ein „Wie Ihr wünscht“ und schlurfte Richtung Stall voran. Ladislaus ließ auf dem Weg den Blick schweifen. Was von außen wehrhaft wirkte, schien im Inneren in eher desolatem Zustand zu sein. Man konnte sehen, dass die gewaltigen Wehranlagen kaum instand gehalten wurden. Der hölzerne Wehrgang fehlte an vielen Stellen völlig, und einige Kasematten schienen nicht für die Verteidigung, sondern als Lagerräume und Stallungen verwendet zu werden. Aus einer erklang sogar der Schrei eines Hahnes, als sie vorüber gingen.
Ladislaus zog eine Augenbraue hoch, sagte jedoch nichts. Hier prallten in der Tat zwei Welten aufeinander. Nun, sei es drum. Dies war nicht seine Baustelle. Was ihm mehr Sorgen machte, war der Zustand des Hauses. Worum, in Praios und Rondras Namen, hatte sich der alte Vogt all die Jahre gekümmert und seine rechte Hand schien sich genauso wenig darum zu kümmern. Sorgenfalten entstanden auf der Stirn des Herrn von Wildreigen, als er den Blick über Mauern und Gangwerke streichen ließ. Es gab also mehrere Themen, die es mit dem Baron zu besprechen gab. Der Weg hierhin hatte sich also gelohnt.
Sein Blick folgte kurz Rondrolf auf dessen Weg zum Baron. Dann blickte er zum Wächter, schenkte diesem ein Lächeln und sagte:
„Vielen Dank, guter Mann. Pass er beim Hengst und der Eselin auf, sie sind ein wenig eigen. Marano, sei so gut und hilf ihm. Du weißt, wie du mit den beiden Tieren umgehen musst.“
Marano nickte und nahm beide Tiere beim Zügel, während Ladislaus im Innenhof stehen blieb und weiterhin die bröckeligen Mauern und zum Teil fehlenden Wehrgänge musterte. Besonders musterte er das Tor von der Innenseite – und instinktiv berechnete der tobrienerfahrene Krieger in ihm den Aufwand, den es kosten würde, diese Feste zu Fall zu bringen.
Dann waren Hasmut, Sigismund und Marano zurück und während der Kämpe seine Position wieder einnahm, führte Roban sie zum Palas. Sigismund und Marano reihten sich hinter Roban und Ladislaus ein.
„Roban, hier muss dringend etwas gemacht werden!“ sagte dieser eindringlich. „Du sagst, es habe im Kosch auch Kämpfe gegeben, während ich fort war. Diese Wehr hier lässt sich mit einem Dutzend Mann einnehmen, mit List brauchst du sogar noch weniger. Holz gibt es hier genug, der Wehrgang ist schnell wieder errichtet und kostet nicht viel. Die Mauern hingegen brauchen einen guten Steinmetz mit Gehilfen. Das ist nicht so einfach und vor allem nicht günstig zu richten.“
Am Palas angekommen, ließ Ladislaus seinen Blick über das Gemäuer wandern. Zumindest dieses war in vernünftigem Zustand: grundsolide und typisch koscher. Am Fuße der Treppe blieb er stehen.
„Lass uns hier auf Herrn Rondrolf warten, damit er uns zum Hausherrn führen möge.“
Er richtete seine Kleidung und zog seinen Wappenrock gerade und seine Begleiter taten es ihm nach. Einem Baron trittst du schließlich nicht wie ein Streuner entgegen, erst recht nicht, wenn du von Stand bist.
„Wozu? Rondrolf sagte, ich soll euch reinbringen, und das werde ich tun. Vater wartet nicht gern, erst recht nicht, weil Besuch auf Adlerstein selten ist. Auf Hohenbirn, wo er bis seiner Ernennung lebte, kam immer mal wieder ein alter Weggefährte des Weges, mit dem man einen Humpen nehmen und reden konnte. Hier kommen zwar auch viele Leute durch, aber nur selten ein bekanntes Gesicht. Also gehen wir rein – hier entlang!“