Der Ruf des Friedwanger Raben 1032 BF: Teil 1
Briefspielgeschichte der Golgariten
Wildermark/Gut Senkenthal, Anfang Praios 1032 BF
Der Rabe krächzte zum dritten Mal, und Bishdarielon schlug die Augen auf. Der Mann in der grauen Tunika blinzelte. Vermutlich war es Oswin. Der arme Marbon war ja verwundet, und seine Schwester Selinde klang anders, heller, klagender...
Die Sonne schien bereits hell in die kleine Hütte, neben der Kapelle auf dem Boronsanger zu Senkenthal. Feine Staubkörnchen glänzen wie Feenwerk in dem Kämmerlein aus Fachwerk, irgendeine Maus raschelte im Stroh über seinem Kopf. Gewiss hatte das Tierchen Oswins Aufmerksamkeit erregt... Er schwang sich aus dem Kastenbett, versicherte sich der Gegenwart von Jasperion, seiner treuen Klinge. Er zog sie halb aus der Lederscheide, prüfte die Schneide - eigentlich nur, weil er noch immer verschlafen war und gerade von einem wilden Zweikampf geträumt hatte. Mit Amene-Horas - oder war es die "Kaiserin" Rohaja gewesen? Rohaja-Popaia, wie er sie gerne nannte. Egal. Er schob die Klinge wieder in ihre eisenverstärkte Hülle und schnallte sie sich mit einem Gähnen um. Dann reckte er sich erst einmal. Die Knochen knackten. Jasperion...Völlig blödsinniger Name, dachte er. Nur weil das gute, aber völlig schmucklose Schwert mal einem Bauern namens Jasper gehört hatte...Ein unbedeutender Landwehrmann. Der war in der letzten Schlacht von Rommilys geblieben, oder wars schon die vorletzte gewesen? Egal, mit dem Gedanken an dieses fürchterliche Gemetzel wollte er eigentlich nicht den Tag beginnen. Der Praioslauf versprach wunderschön zu werden.
Er entriegelte die Tür, die knarrend aufschwang, und blickte hinaus auf sein kleines Reich: Der Boronanger von Senkenthal (oder Sunkdal, wie das nahe Dorf in der Mundart der Einheimischen hieß). Weit hast Du´s gebracht, O Wohlgeboren, verspottete er sich selbst, während sein Blick über die Boronsräder, Grabstelen, kleinen Mausoleen und Grüfte wanderte, die da in der Morgensonne prunkten. Eigentlich nur Edler und schon an seinem Residenzort Herr über 500 Untertanen - in prächtigen Unterkünften, die tagaus, tagein Ruhe und Ordnung hielten, niemals aufmuckten, keine Beschwerden und Streitereien untereinander führten, gesetzestreue Leutchen eben... Wie ein Boronsrad führten kiesbestreute Wege weg vom Boronschrein, ein schmuckes Bauwerk aus schwarzem Basalt, hin zu einem Weg entlang der halbrunden Mauer, mit dem schmiedeeisernen Tor. Gen Efferd schloss sich noch der verwilderte Arme-Sünder-Anger an, im Norden die sogenannten "Sieben Hairane" - Grabhügel aus der Zeit der Alhanier. Noch weiter gen Firun lagen die Berge, zwischen denen hervor sich die Rausche ergoss, ein munteres Bächlein, das seinem Namen alle Ehre bereitete.
Bishdarielon war, kein Zweifel, ein Einzelgänger. Wenn ihm die letzten 38 Götterläufe irgendetwas gelehrt hatten dann, das man Toten im Allgemeinen mehr trauen durfte als den Lebenden. Nicht mal dem eigenen Bruder durfte einer den Rücken kehren...dem eigenen Zwillingsbruder nicht... Er ging zu einem steinernen Schöpftrog, zog den muskulösen, narbenbedeckten Oberkörper aus und wusch sich - nicht ohne mißtrauisch zum Himmel zu blicken. Der nächste Besuch der Krähen war eigentlich überfällig - auch wenn sie trübe, regnerische oder neblige Tage und die Abendstunden bevorzugten, und den hellen Praiosschein mieden... Aber nur einige träge, weiße Wölkchen glitten oben in Aves' Reich dahin, und ein einsamer Raubvogel...Das Wasser war frisch, er selbst hatte es ja gestern abend aus der Rausche geholt. Er wusch sich auch die schwarz gekräuseltenen Locken, musterte sein verschwommenes Gesicht in diesem dunklen Spiegel. Blass, vornehm, mit hoher Stirn...Ein echter Aristokrat, dachte er, durchaus selbstgefällig. Er stützte sich mit den kräftigen Armen am Trogrand ab und sah sein Spiegelbild durchdringend an. Dessen Ausdruck veränderte sich jetzt. Er sah s i c h darin, sich und i h n. Alrik. Sein Bruder.... Ein wütender Schrei. Er ballte die Faust, schlug auf das Wasser. Aufspritzend verschwand das schemenhafte Porträt in heftigen Wellenkreisen.
Er warf das nasse Haar über die Schulter, rieb den Schopf und seinen Oberkörper mit einem Leinentuch ab, das er zum Trocknen über einen Strauch geworfen hatte. Alrik, du Betrüger...Selbst meinen Namen hast du mir genommen. Oder war es, der sich hier betrog? Irgendwie war es leichter gewesen, das Streunerlein Francesco di Palazzo zu hassen, als er noch nicht gewusst hatte, dass sie durch eine üble Laune des Schicksals vom gleichen Fleisch und Blut waren. Er holte Seife und Rasiermesser, schmierte sich die kratzigen Wangen ein, schabte an den Bartstoppeln. Seitdem er Besuch aus Burg Mersingen erwartete, achtete er wieder mehr auf solche Dinge.
Der doppelte Alrik. Sein Zwillingsbruder Francesco und er, Bishdarielon... Nach der Geburt im königlichen Palast zu Brabak getrennt, durch einen grotesken Zufall, während einer frommen Pilgerfahrt seiner Mutter. Im Jahr der Thronbesteigung Hals. Bishdarielon wiederholte das Altbekannte zum hundertsten Mal in Gedanken, im zermarterten Hirn, als müsse er es auswendig lernen. Er war als Alrik Tsalind von Friedwang in die gleichnamige Baronie zurückgekehrt - nur um im zarten Alter von 15 Jahren erneut in den Süden entführt zu werden, durch die Ränke seines schurkischen Vetters Gernot. An Al´Anfaner Sklavenhändler hatte man ihn verramscht wie ein Stück Vieh. Als Knappe Answins war der Jüngling Alrik jäh in ein atemberaubendes Abenteuer getaumelt, vom Südmeer hatte es ihn in den Khomkrieg verschlagen, noch ehe ihm überhaupt der erste Flaum gewachsen war. Das Gedächtnis hatten sie ihm im Tiefen Süden geraubt: ER selbst, mit Borons heiligstem Artefakt. Bishdarielon zuckte zusammen, als er sich mit einem tiefen Schnitt die Wange verunzierte. Blut schoss hervor, er tupfte es mit dem Tuch ab. Die Wunde brannte niederhöllisch. Trotz des Sonnenscheins schauderte ihm. Er wusste nicht, welcher Gedanke ihm mehr Furcht und Grauen bereitete. Der an Tar Honak, oder an die Folgen der Berührung mit dem Stab des Vergessens, damals im Feldlager von Unau - wohin sie ihn, den mittelreichischen Baronssohn verschleppt hatten. Ein Winkelzug des Patriarchen, mehr nicht: Er wollte dem Kaiser nicht den geringsten Vorwand für einen Kriegseintritt auf Seiten der Novadis bieten. Oder vielleicht einfach nur eine Laune des Erzketzers. So wie Bishdarielons spätere Ausbildung zum Boronsraben, zur reinen Kampf- und Mordmaschine in Diensten der Pestbeule, ohne eigenen Namen, ohne Erinnerung und Vergangenheit...ohne Seele. Nicht mehr als ein Golem. Wenn nicht ein Untoter. Ein Zombie...Bishdarielon, so hatten die Al´Anfaner Söldner ihn noch in Unau genannt. Ein junger Bursche, der aussah, als wäre er gerade aus einem schrecklich-schönen Traum erwacht. Ein Mensch mit zwei Gesichtern. Bishdarielon zitterte. Er war zu lange allein, mit sich, seinen Gedanken, und der Vergangenheit. Vorsichtig nahm er die Rasur wieder auf. Im Grunde war Tars Sohn gnädiger gewesen, als er ihn Jahre später, von einem Tag auf den anderen aus dem Orden verstossen hatte. Er war ins Bodenlose gestürzt, vom Boronsraben zurück ins Sklavendasein. Amir duldete keine weltlichen Spielereien mit Borons heiligstem Artefakt - nicht einmal als Machtspiel seines Vaters. Immerhin, der junge Honak hatte ihm seinerzeit, in der Stadt des Schweigens, wieder seine Erinnerung zurückgegeben, mit dem Stabende, eine Erfahrung die furchtbar und herrlich zugleich gewesen war. Was zählte das alles schon, für einen Sklaven? Von seiner Zeit als Wache in Amir Honaks Folterkammer her wusste er, dass die scheußlichsten Schmerzen erst dann kamen, wenn die Spannung der Streckbank nachließ. Ein zerbrochenes, ein in zwei Hälften zerfallenes Leben, mehr nannte er auch jetzt nicht sein eigen. Es war allein Boron, der seinem Dasein noch einen letzten Sinn gab, ihn vor dem Wahnsinn einer gespaltenen Seele bewahrte. Er wusch die Klinge im Trog aus, wischte sich Hals und Kinn sauber. Glatt, wer sagte es denn. Wie der sündhaft teure Basalt in der Stadt des Schweigens. Der Seifengeruch erinnerte ihn entfernt an den allgegenwärtigen Dunst des Weihrauchs dort - und der Geruch von Blut kam ihm ebenfalls, von Al´Anfa her, vertraut vor.
Bishdarielon klappte die Klinge zusammen, steckte sie in die Hosentasche, blickte auf den rotbesprenkelten Stoff in seiner Hand. In Al´Anfanischer Sklaverei, auf einer Rauschkrautplantage, war er seinem verschollenen Bruder wieder begegnet, ohne dass sie sich als Geschwister erkannt hätten. Francesco, ein Brabaker Strauchdieb, ein Phexjünger, dessen Steckbrief länger war als sein eigener imposanter Stammbaum. Die Flucht in die Grüne Hölle, sie hatte tragisch geendet. Von den Bluthunden der Sklavenjäger zerfleischt, war er in einem Mohadorf zurückgeblieben, hatte diesmal er, der Baronssohn für tot gegolten, während Francesco in seinem Namen nach Darpatien zurückgekehrt war. Als Baron Alrik Tsalind von Friedwang. Daran hatte sich im Grunde bis heute nichts geändert...Dafür sorgte Alrik-Francesco schon, mit seinen Ränken. Bist schlauer als ich, Brüderchen. Ich gebe mich mit einem Dorf und einem bescheidenen Titel und einer Herrschaft über 250 Lebende und doppelt soviel Tote zufrieden. Bishdarielon Edler von Senkenthal. Mein Name, mein Erbe gegen diesen schaurigen Zufluchtsort hier. Was zählt da schon, das Senkenthal mal das reichste Dorf Friedwangs war. Jetzt sind wir alle abgebrannt. Dann habe ich noch die Mitgliedschaft im Golgaritenorden auf der Habenseite. So unterscheidet ihr Phexjünger doch die Dinge auf dieser Welt: In Soll und Haben. Ich kann zumindest mit den Golgariten rechnen. Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Al´Anfa, das ist unser gemeinsamer Feind. Du bist nur mein Bruder. Nun ja, Feinde kann man sich wenigstens aussuchen...
Bishdarielon zog seine Tunika wieder über...Nein, er hatte nicht alles verloren. Sylvana gab es noch, seine kleine Tochter...Mein kleines Halbblut. Er lächelte, als er das Gesicht der Mutter vor sich sah...Ake-Tscheya, seufzte er....Einen Moment lang glaubte er ihre heißen Küsse auf seinen Lippen zu spüren, ihre zarten Berührungen, schamlos im besten Wortsinn, befand er sich wieder im dampfenden, zwitschernden Dschungel am Jalob, in den gedrungenen Laubhütten der Chapewahas. Das grüne Paradies. Er riss sich fast gewaltsam aus der Erinnerung los, zwinkerte sich das Feuchte, Heißnasse aus den Augen, schluckte, atmete durch. Genug der Tagträumereien. Die Einsamkeit tat ihm nicht gut. Ake-Tscheya ist lange tot, von den Al´Anfanern erschlagen, diesen Bestien. Seit dem Tag, an dem das Dorf der Chapewahas gebrannt hatte.
Sylvana befand sich auf Burg Friedstein, in der Obut seines Bruders und dessen Gemahlin Serwa. In "Sicherheit". Außerdem, war es nicht besser, wenn sich eine Frau, eine erfahrene Mutter um die Kleine kümmerte? Das Land war ja wirklich unsicher, auch nach dem Sturz der Thronräuberin Oleana, die Gegend um Senkenthal ganz besonders...Ach ja, und natürlich benötigte "Alrik" noch ein kleines Unterpfand, das das Wohlverhalten seines geliebten Bruderherzes sicherstellte, und dessen großzügigen, selbstlosen, bewundernswerten Verzicht auf Name, Titel und Erbe. Bishdarielon...der ewige Verlierer, der im letzten Bürgerkrieg auf der Seite Answins gekämpft hatte...noch ein Makel im Lebenslauf, der dafür sorgte, dass er hier auf einem Friedhof hausen musste...einer Freistätte, ein Asyl immerhin nach landläufigem Recht....auch er hatte sich abgesichert....Man sicherte sich besser ab heutzutage...War es falsch gewesen, in seinem Brief die Zahl dieser aufdringlichen Gespensterkrähen ein bißchen zu übertreiben? Oder Gerüchte über einen Schwarzen Reiter noch etwas farbiger, oder besser gesagt dunkler, auszuschmücken? Vielleicht war es ja nur ein vor Hunger verzweifelter Bauer gewesen, der auf Marbon geschossen hatte, so etwas kam vor...Und von Sternkunde hatte er streng genommen keinen blassen Schimmer. Aber er brauchte Verbündete...Kämpfer...fähige Klingen...und die würde er am einfachsten im Golgaritenorden finden.
Er ging wieder in die Hütte, sah nach Marbon, der mit seinem Verband auf der Sitzstange hockte, fütterte ihn mit etwas getrocknetem Fleisch. "Boron, wir loben dich", krächzte der Rabe und zwinkerte mit den schwarzen, sanften Augen. Marbon schien wirklich dankbar zu sein. "Loben dich" wiederholte der Boronsvogel, wippte und sah Bishdarielon auffordernd an. Der Golgarit strich ihm über die glatten, blauschwarzen Federn, kraulte den Hals unter dem hornigen, dunkelgrauen Schnabel. Marbon schmiegte sich an seine Hand, den Schnabel leicht geöffnet. Die Liebkosung schien ihm zu gefallen. Der Pfeil hatte das Tier an der Seite getroffen und glatt durchschlagen. Es war ein Wunder, dass es, nach einem Sturz aus mehreren Schritt Höhe, noch lebte. Aber seit ein paar Tagen ging es mit seinem gefiederten Freund wieder aufwärts. Seitdem er den Boten mit dem Brief in Richtung Burg Mersingen geschickt hatte. Ein gutes Omen, auch wenn man sich keinesfalls sicher sein konnte, dass die Botschaft überhaupt am Todeswall ankam. "Wenn du endgültig gesund bist, Marb, schneiden wir dir erstmal die Krallen", meinte Bishdarielon. Er verstand die Menschen nicht, die sich vor den "Pechvögeln" und "Unglücksbringern" fürchteten. Er fühlte sich in ihrer Gegenwart sicher und behütet, als würde sich mit ihnen etwas ungemein Weises, Mächtiges, Altes, Würdevolles und Kluges im Raum aufhalten. Und so war es ja auch. Raben erinnerten den Adeligen nicht an den Tod, sie nahmen ihm vielmehr die Furcht vor dem unvermeidlichen Flug über das Nirgendmeer. Beruhigten seine flatternden Nerven auch sonst. Seitdem er sein Schlafgemach mit Marbon teilte, träumte er wieder ruhig. Nicht einmal der Gedanke an Bruder Khadilion, den Priester, der während des Jahres des Feuers hier niedergemetzelt worden war, bereitete ihm mehr schlaflose Nächte. "Kaiserin" Rohaja in all ihrer Anmaßung - das war der größte Schrecken, den ihm sein Namenspatron Bishdariel seither gesandt hatte.
Bishdarielon entzündete das Feuer, schob den Kessel mit der Grütze darüber. Heute würde es wieder Getreidebrei geben, Frühstück nach Bauernart. Mit hämischen Grinsen klatschte er das dampfende Zeug in den Essnapf, setzte sich an den grob gezimmerten Tisch, stieß den hölzernen Löffel hinein. Aah, heiß...Er blies über den ekligen Matsch, der über den Löffelrand tropfte wie Erbrochenes, kostete erneut, verzog das Gesicht... Kochen, das war noch nie seine Stärke gewesen. Das über den Stuhl geworfene Kettenhemd klirrte in seinem Rücken. Es wurde Zeit, dass er hier herauskam. Außer von Rohaja-Popaia hatte er vorhin noch von etwas anderem geträumt. Von einer stolzen Burg. Seiner künftigen Burg. Die Wasserburg Suunkdal. Er würde diesem Jammertal entrinnen, schwor er sich. Und nicht erst an dem Tag, an dem er in Borons Hallen eintrat. Verflucht, er war ein Edelmann, kein Schindsklave, auch wenn man ihn lange Jahre so behandelt hatte. "Bei meiner Seel´, ich werde ein echter Edler von Senkenthal sein", knurrte er: "Und vielleicht noch mehr als das, ha...". Marbon sah ihn aus großen Augen an, schlug mit den gestutzten Schwingen.
Das Schnauben von Pferden und der Klang von Hufen auf dem Boronanger ließ sie beide aufhorchen...