Zwergenwerk - Ein rauer Empfang
Mirkagarten, Mitte Praios 1044
Das Tor stand offen und war unbewacht. Als sich selbst nach mehrmaligem Rufen nichts rührte, zog Gromnasch seinen Leiterwagen durch das Schlosstor, eine schmale Gasse entlang durch ein ebenfalls offenes Turmtor. „Die stärksten Mauern haben die kleinsten Öffnungen“, zitierte er brummend einen seiner Lehrmeister. Solche Nachlässigkeiten hätte er von einem Artgenossen weniger erwartet. Schließlich stand er in einem Hof vor dem Palas.
Gromnasch ließ die Deichsel seines Leiterwagens los, wischte sich über die verschwitzte Stirn und blickte sich um. Bis auf ein paar gackernder Hühner, die im Staub nach Würmern scharrten, schien er das einzige Lebewesen zu sein.
Waren die Geschichten vom Spukschloss doch wahr?
Unbehagen stieg in Gromnasch auf.
An den Fenstern des untersten Stockwerks konnte man deutlich Spuren eines alten Brandes erkennen. Alt deshalb, weil sich mittlerweile Efeu über die rußige Fassade rankte. Sein Blick blieb regelrecht daran haften. Schon musterte er das Mauerwerk auf Risse oder verräterische Verfärbungen der Steine, um Vermutungen anzustellen, ob die Hitze der Statik zugesetzt haben könnte. Erst nach einem Augenblick erinnerte er sich wieder, dass es erst einmal wichtigeres gab.
„Hallo! Ist da jemand?“ – Gromnasch rief abermals.
Alte Statuen blickten stumm auf ihn herab.
Gromnasch schluckte, wandte sich schließlich der Treppe zu, die zum Eingangsportal in den Palas führten und schritt sie langsam empor. Unwillkürlich suchte seine Hand die Nähe des Drachenzahnes, der in seinem Gürtel steckte.
An der obersten Stufe angekommen streckte er seine Hand nach dem löwenhäuptigen Messinggriff aus, als in eben diesem Augenblick das Tor knarrend nach innen aufschwang und ein kalter Lufthauch aus dem dunklen Inneren an ihm vorbeizog. Eine ausgemergelte Gestalt schob sich in den Türrahmen und starrte ihn aus kalten, grauen Augen an. Gromnasch erbleichte und stolperte einige Stufen rückwärts.
„Was schreist du hier so rum!“ – keifte ihn die Gestalt mit reibeisener Stimme an. Im nächsten Augenblick umhüllte ihn eine Wolke süßlichen, weißen Rauches, die ihm die Erscheinung entgegenblies.
Gromnasch hielt das steinerne Treppengeländer mit eisernem Griff umschlungen und starrte das Geschöpf, dass das Portal blockierte, unverwandt an. Erst nach einigen Augenblicken war er sich sicher, dass es sich bei seinem Gegenüber um einen Menschen handelte. Einen lebendigen Menschen.
Die Geschichten vom Spukschloss, die eben noch seinen Geist im Bann hielten, verflogen. Gromnasch nahm Haltung an und räusperte sich. Noch etwas mitgenommen, suchte er nach Worten: „Ich, äh... Ich bin Gromnasch … und… Ich … bin Baumeister.“
Der Mensch starrte ihn an und schob eine Holzpfeife von einem Mundwinkel in den anderen. Mehr zu sich selbst als zu Gromnasch sprach der Mensch: „Zuerst schreit er im Hof herum und dann bringt er keinen geraden Satz heraus.“
Dass er hier zu Gast war, schön und gut. Aber Gromnasch war es gewohnt, von Fremden mit etwas mehr Respekt behandelt zu werden, weshalb mit schwindendem Schrecken sein nunmehr angekratzter Stolz sein Handeln übernahm.
Er zog die Augenbraue zusammen: „Ich will den Baron sprechen! Und überhaupt! – Warum ist hier niemand? Und wer seid Ihr?“
„Waschtag“, raunte der Mensch.
Gromnasch blickte fragend.
„Heute ist Waschtag. Das Gesinde ist nicht hier, sondern am Fluss und wäscht Wäsche. Und ich bin Ilma, die Kammerherrin von Mirkagarten. Komm mit, Baumeister. Ich bringe dich zum Baron.“
Er musste noch einmal tief durchatmen, ehe er wieder seine gewohnte Fassung zurückerlangen konnte.
„Nun gut. Aber ich will noch eben ein paar Unterlagen holen.“ Und schon machte er auf dem Absatz kehrt. Gromnasch hatte sich fest vorgenommen, einen guten Eindruck zu hinterlassen. Und ein paar Pläne von früheren Projekten würden dabei sicher hilfreich sein, dachte er sich.