Unter dem Schleier - Zerbrich das Rad
Moorbrücker Sumpf, Phex 1043
In dieser Nacht schlich sich der Nebel auch in seine Träume: Während er dicht von ihm eingehüllt wurde, kreiste ein dunkler Schatten über ihm. Kreis um Kreis zog er. Dunkel zeichnete er sich gegen den hellen Nebel ab. Der Schatten eines Raben. Und immerzu krächzte er: „Mar-bo. Mar-bo. Mar-bo.“
Die leise Stimme einer Frau, die da wisperte: „Ich habe versucht es anzuhalten. Doch es riss mich immer wieder mit. Das Rad, es dreht sich weiter. Immer weiter. Ohne Unterlass. Unerbittlich. Ganz gleich was geschieht.“ Finger, die sich zwischen seine Augen legten. „Das Rad, es muss zerbrochen werden. Jemand muss es zerbrechen. Jemand muss...“ Sie hielt einen Moment inne. „Sonst wird es nicht enden. Sonst wird es auf ewig weiter rollen. Sonst wird...“ Ihre Stimme wurde noch leiser.
Über ihm wieder der Schatten des Raben. Er rief: „Mar-bo. Mar-bo. Mar-bo.“
„Als ich Dich zum erste Mal sah, so verhüllt in tiefes Schweigen, so gespenstisch stumm und her. Dein Haupt war kahl geschworen.“ Eine Hand fuhr ihm über seinen kahlen Schädel. „Doch bist als Rabe nicht geboren. Ich sprach: Sag dunkler Vogel kommst du denn von Dere her? Und was ist Dein Namen dorten in der Geister Nirgendmeer?[1]“
Der Schatten des Rabens über ihm begann zu taumeln. Er schrie aus Leibeskräften, als ging es um sein eigenes Leben: „Mar-bo. Mar-bo. Mar-bo.“
Ihre Stimme war nur noch ein leises Säuseln: „Verzeih mir.“ Ein Schluchzen entrann ihrer Kehle. „Verzeih mir.“ Der Druck ihrer Finger wurde stärker.
Der Rabe stürzte einem Stein gleich zu Boden. Seine kleinen Knochen brachen. Zerschmettert lag er da. Doch zuvor hatte er noch ein letztes mal zu kreischen vermocht: „Mar-bo. Mar-bo. Mar-bo. Marbo-lieb.“
Er schrie.
„Du musst das Rad zerbrechen“, dröhnte ihre Stimme in seinem Kopf. Ihr Finger bohrten sich in sein Fleisch. „Zerbrich es! Zerbrich ihr Rad! Zer...“
Nach Marbolieb schreiend erwachte Hal von Boltansroden schweißgebadet. Die Novizin saß da bereits auf seiner Bettkante, schaute ihn mit ihren funkelnden dunklen Augen unter ihrem Schleier heraus an. Eine einsame Kerze stand auf der Truhe hinter seinem Bett und versuchte vergeblich die Dunkelheit zu vertreiben.
„Räblein“, wisperte der Geweihte mit zugeschnürter Kehle, setzte sich eilig auf und schloss sie in seine Arme, „Ach Räblein. Mein Räblein.“
„Die Frau im Nebel“, raunte sie ihm leise zu, „Sie war auch in Euren Träumen, nicht wahr?“
„Ja“, erwiderte er tonlos, „Sie war da.“
„Und der Rabe?“, sie löste sich aus seiner Umarmung, „Er doch gewiss auch? Was...“ Marbolieb stockte einen Moment. „... was hat er... gerufen?“
In die Augen des Geweihten stiegen Tränen. Unkontrolliert begannen sie seine Wangen herunterzurinnen. Er brachte es nicht über sich ihr zu sagen, dass der Rabe ihren Namen gerufen hatte: Marbolieb.