Der Ruf des Friedwanger Raben 1032 BF: Teil 21
Briefspielgeschichte der Golgariten
Die Wildermark, Anfang Praios 1032 BF
Bisch blickte einen Moment lang verdutzt. Was auch immer es zu bedeuten hatte…es schien interessant zu werden. Der kleine Matrose kratzte sich verlegen am Hinterkopf. „Kata, wir müssen diesen Irrwisch verfolgen, koste es, was es wolle“. Sein Blick fiel auf Ratzfatz. „Dafür benötige ich aber noch mal deine Hilfe. Genauer gesagt deinen Hexenbesen.“ Die Tochter Satuarias schüttelte den blassen Kopf mit den wunderschönen kirschroten Haaren und sah ihn aus ihren Smaragdaugen bekümmert an. „Du hast es immer noch nicht verstanden. Ich sterbe, wenn ich dieses Tal verlasse…und zwar schnell - und diesmal endgültig.“ „Ach was, wer redet denn von verlassen. Diesen Garvin holen wir doch locker ein. Bis der die Felswände raufgeschwebt ist…“ Garvin, dachte er. Das muss das ruhelose Gespenst sein. Kein Zweifel: Die schrille Stimme hörte sich nach dem verbrannten Sokramorier an. Einige Herzschläge später war das Geheule verstummt, ebenso die Feuerkugel verschwunden. Hie und da prasselten Flammen hoch, breiteten sich im feuchten, morastigen Unterholz aus - aber nicht mehr so schnell, wie Bishdarielon erwartet hätte. Stattdessen rauchte und qualmte es überall wie Morgennebel. Hier und dort züngelten arangefarbene Flammen in den Rauch hinein. Der Junge musste husten, wich einer heranwehenden Rauchfahne aus. Die Hexe spähte der Feuerspur hinterher. „Nun, vermutlich steuert er geradewegs den Talausgang an…“ „Den Tal a u s g a n g ? “ „Ja, den geheimen Zugang, den die…Nichtfliegenden üblicherweise nehmen…“ „Den was? Bei meiner Seel, es gibt einen ebenerdigen Zugang zum Tal? Und mich schickst du irgendwelche halsbrecherischen Treppen hinauf, bei Nacht und Nebel ?“ „Gewiss, bei Satuaria. Du musst ja nicht gleich alles wissen. Das letzte Mal, dass Fremde den Eulenkuhl durch das Dunkle Tor zur Königin der Nacht betreten haben…nun, das waren Häscher des Bannstrahlordens…“ Das Dunkle Tor zur Königin der Nacht. Bishdarielon hätte nicht sagen können, ob er diesen Namen nun lächerlich oder schauderhaft finden sollte. Wahrscheinlich bezog er sich wieder auf dieses versteinerte Federvieh, diese Eule. Das Götzentier… „Hört sich an wie die Tür zu nem Perricumer Puff“, knurrte er. Mit Kinderstimme klang das nicht so rau und männlich an wie erhofft. „Wie meinen?“ „Ach nichts. Dann bring mich einfach zu diesem Tor…mit meinen kurzen Füßen komme ich einfach nicht so schnell voran…“ Hekata überlegte, dann nickte sie kurz entschlossen. Mit eleganter Bewegung nahm sie den Besen von der Schulter, klemmte ihn sich – auf durchaus frivole Weise – zwischen die wohlgeformten Beine. Ihre Augen leuchten lustvoll auf, erneut schien Lebenskraft, vor allem aber Lebenslust in ihren weißen Leib zurückzufließen. Muriel sprang ihr auf den Rücken. Etwas unsicher nahm Bishdarielon hinter ihr Platz, legte seine Hände um die Hüfte der Hexe, spürte ein heißes Prickeln der Erregung. Lag es an der Aussicht auf ein avesgefälliges Flug-Abenteuer – oder einfach daran, dass die junge Frau vor ihm wahrlich einen schlanken und ranken, der Liebesgöttin gefälligen Körper hatte? Ihre Haare dufteten, nach Kräutern, Blumen und natürlicher Weiblichkeit. Der Golgarit schluckte, griff nach dem Besenstiel, der hart zwischen seinen Beinen hervorragte. Er fühlte sich zu allem Überfluss auch noch leicht klebrig an – irgendwo hatte er einmal gehört, dass die Töchter Satuarias ihre Fluggeräte mit einer Art Salbe beschmierten. Nervös rutschte er hin und her. Nein, auf diese Weise würde er keinen Halt finden. Er griff wieder nach Katas Lenden. Viel Platz hatte er wirklich nicht: An seinem Allerwertesten raschelte bereits das dicke Reißigbündel des Besens. „Boron hilf!“ konnte er noch denken, dann ging es auch schon los, mit einem gewaltigen Ruck: Bishdarielon keuchte, als Ratzfatz seinem Namen alle Ehre machte und losschwirrte, wie ein wildgewordener Gaul, der von der Hornisse gestochen worden war. Einfach wie ein Pfeil in die Luft hinein stieß, so dass der unerfahrene Besen-Reiter nach hinten gerissen wurde und um ein Haar von der Stange gefallen wäre. Er musste sich eng an Hekata schmiegen, sonst würde er tatsächlich abgeworfen werden…Muriels Schwanz kitzelte ihm an der Nase. Steil ging es in den hellblauen Himmel, täuschte Bisch sich, oder hörte er die Sokramorierin jauchzen? Ihre Haare flatterten wild im Wind, über Bischs Kopf hinweg, teilweise auch hinein. Verkrampft klammerte er sich an die Vorderfrau. Der Golgarit war ein guter Reiter, zumindest im ausgewachsenen Zustand, aber das hier brachte ihn an die Grenzen seiner Nervenkraft. Alle rahjagefälligen Gelüste waren buchstäblich verflogen. Er spürte, dass der Besen Mühe hatte, die doppelte Last zu tragen, nach einigen bangen Herzschlägen seinerseits gewannen sie nur noch schwerfällig, fast schon taumelnd an Höhe. Seine neue Körpergröße erleichterte die Sache etwas, aber wahrscheinlich war es auch irgendein Zauber, der ihn auf dem Besen hielt. Schüchtern wagte er jetzt nach unten zu spähen, an den pendelnden Füßen hinab in die Tiefe – ein schwindelerregender Abgrund, von wo aus Sumus Griff ebenso an ihm zerrte wie der kalte Flugwind von vorne. Eine eigene Strähne flatterte ihm in die Augen, hastig wischte er sie beiseite. Dort unten lag das kreisrunde Tal in all seiner Pracht: Der golden glitzernde, sichelförmige Regenbogen-See, der lindgrüne Wald, die schwarzgrauen Felswände – davor der rauchende Aschehaufen des Praiosmanns. Das Bächlein, das in den Teich hinein mündete, sprühte in einiger Entfernung als Wasserfall eine Felswand hinunter. Seltsam, dass ihm das gestern noch nicht aufgefallen war. Wie bunte Kleckse standen Zelte auf der Lichtung, selbst aus der Adlerperspektive wirkten sie verloren im Grün-Schwarz des Bergwaldes. Warm strahlte die Vormittagssonne herunter. Unten rauchte, brannte und loderte es noch immer, die verkaterten Zecher in ihren Zelten (oder auf der Wiese) schienen noch immer nichts von dem Waldbrand bemerkt zu haben. Man musste einfach nur der Flammenspur nachfliegen, um Garvin zu folgen – tatsächlich, dort vorne klaffte ein breiter, lichtloser Spalt in den ansonsten so abweisenden, umzingelnden Mauern aus Schiefergestein. Schwarzflirrende Wolken aus Krähen stiegen in den dicht bewaldeten Hängen des Talkessels auf, schienen sie, wenn auch im gebührenden Abstand, eskortieren zu wollen.
Der Besen sackte jäh wieder ab - noch ehe Bishdarielon den wilden Ritt genießen konnte, war er auch schon wieder vorbei. Die Erde kam näher, Hekata landete sanft. Mit weichen, zitternden Beinen stieg er ab, ein Gemisch aus Furcht und Faszination in den Knochen. Er spürte leichte Übelkeit. „Da-Danke“, sagte er zu Kata. Irrte er sich, oder saß sie etwas bleicher als gerade eben auf dem Besen? Die Nähe der Spalte schien ihr nicht zu behagen. Sie drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, eher mütterlich-besorgt als rahjagefällig, dann wies sie auf die Öffnung im Berg. „Sei vorsichtig.“ Der Golgarit nickte. „Ach ja, noch etwas.“ Die Tochter Satuarias sah auf seine nackten Füße, streifte dann mit einem Seufzen ihre eigenen Schuhe ab. „Beim Fliegen brauche ich sie ja nicht.“ Mit ammenhaften Lächeln schob sie Bisch das Schuhwerk zu. Sie passten erstaunlich gut, waren für überaus zierliche Füße geschnitten. Das weiche Leder fühlte sich sogar angenehm an. „Danke für alles“, wiederholte er noch einmal. „Geh jetzt.“ Das klang fast schon wieder barsch. Scheinbar geistesabwesend kraulte Hekata den Backenbart ihres Katers. Muriel schnurrte genießerisch auf ihrer Schulter. Die Art, wie er Bishdarielon mit seinen kühlen goldenen Augen musterte, hatte etwas Abweisendes.
Ohne weitere Worte drehte der Suunkdaler sich um. Die Spalte verströmte tatsächlich eine Aura von Bedrohung, aus seiner Zwergenhöhe sah derzeit aber irgendwie alles unangenehm aus. Kleinere Brände loderten links und rechts in dürren Sträuchern und morschem Geäst hoch. Zusammen mit dem Geröll auf dem Boden erinnerte die Szenerie an eine Vulkanlandschaft. Oder an ein verfluchtes Tor zur Unterwelt. Er betrat die Spalte. Ein Riss in Sumus Leib, schwer zu sagen, auf welche Art er entstanden war. Aber gewaltige Kräfte hatten einmal an diesem Ort getobt. Ein Erdbeben, möglicherweise. Oder hatte sich hier vor Urzeiten ein Wildbach einen Weg durch das zerklüftete Schieferstein gebahnt? Von oben wucherte Wurzelwerk herab, viele der Steine waren bemoost. Bunte Pilze ragten hier und da aus dem Zwielicht, an manchen Stellen hatten sich trübe Wasserlachen gesammelt. Pitsch-pitsch-pitsch tropfte es von oben herab. Der Pfad mühte sich durch die Schatten der Felsen voran, Licht sprenkelte zwischen Felsvorsprüngen und Baumwipfeln herab. Bishdarielon war sich keineswegs sicher, ob dieser Weg einfacher sein würde als der Treppenaufgang von gestern Abend. Immer wieder musste er über klackernde, glitschige Steinhaufen klettern, einmal sogar über einen halbvermoderten, angebrochenen Baumstamm, der von oben herab gestürzt war. Sokramors Gegenwart…hier vermochte selbst ein Zwolfgöttergläubiger wie er sie zu erahnen. Ein steter, zischelnder Luftzug spielte mit den lockigen Haaren des Knaben. Es war, als wollten ihm Geister eine Warnung ins Ohr flüstern. Die Geister seiner Vorgänger? Krah-Kraah-Kraaah-Kraaah…. Das Kind duckte sich, als über ihm die kreischende Schar der Schwarzen Schwestern dahinschwärmte. Aus irgendeinem Grund suchten die Vögel das gleiche Ziel wie er – wo auch immer sie es finden würden.
Die Spalte weitete sich jäh, er stand wieder im Freien – oder besser gesagt, erneut in der Wildnis. Rauschende Wipfel, sattes Lindgrün. Der Wald hier draußen war vergleichsweise licht, aber dass man zwischen den Bäumen, Farnen und Sträuchern so weit sehen konnte, beunruhigte ihn mehr als es wildwucherndes Dickicht getan hätte. Es gab ihm ein Gespür dafür, wie riesig die Ausdehnung war. Niemand würde ihn in dieser Einöde vermissen…außer Hekata vielleicht…aber seine Hexenfreundin konnte ihm gerade am allerwenigsten helfen.
Ein in vielen Götterläufen ausgetretener, aber schon wieder halb zugewucherter Trampelpfad schlängelte sich vor ihm durch die Baumreihen. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Viele Bäume waren durch Windbruch zerstört, von Blitzen gespalten, manche entwurzelt. Knollige Gesichter aus Rinde und Ästen sahen ihn feindselig an. Königliche Eichen neigten sich über ihm im Wind, das Spiel ihrer rauschenden, mit grüngoldenen Blättern geschmückten Äste, das Flirren von Licht und Schatten war verwirrend. Hie und ragten einzelne schwarze Felszähne auf, der Boden war schrundig und uneben. Wie tulamidische Teelichtlein wiesen ihm kleine, flackernde, rasch verlöschende Brandherde den Weg. Die Feuerkugel war wirklich hier entlang geflogen. Windspiele aus Holz und Krähenfedern baumelten in den Bäumen, wohl als letzte Warnung an Uneingeladene, den Weg zum Fest nicht zur Gänze zu folgen. Der Schmuck lenkte seinen Blick auf große, kugelrunde Vogelnester in den Wipfeln – hausten darin die Krähen? Nein, es waren Mistelzweige, die dort oben wucherten.
Irgendwo in der Nähe raunten Avesharfen unstet im Wind, ein flirrender, zauberhafter und dennoch beunruhigender Sphärenklang. Bishdarielon kniff die Augen zusammen, als im Weitergehen etwas gegen seine Stirn schlug. Ein frevlerischer „Scherzbold“ hatte es tatsächlich fertiggebracht, vor ihm, am Wegesrand, eine Praiosstatuette verkehrt herum aufzuhängen, an einer vermoderten Schnur. Mit einem Stoßgebet zum Himmelskönig riss er sie ab, befreite sie von ihrer Fußfessel und stellte sie auf einen großen, flachen Stein. Verstört schlug Bishdarielon das Sonnenzeichen und bat den Allerhöchsten um Verzeihung für eine Sünde, die ein anderer an seiner Herrlichkeit begangen hatte. Oder wollte ihm der Götterfürst so in Erinnerung rufen, in welch schlechte Gesellschaft er geraten war? Auch Bishdarielon hatte, wenn nicht mit dem Unglauben paktiert, so doch vor Praios' Angesicht Schwäche gezeigt. Unter Zuhilfenahme des Ärmels versuchte er das bemalte Holzfigürchen sauber zu wischen, das den Gott mit Greifenkopf, weiß-goldener (allerdings von Schmutzschlieren verunzierter) Gewandung und segnend erhobenen Armen zeigte. Ein gutes Omen? Sollte er „Praios“ hier stehen lassen? Nein, das wäre selbst ein Frevel gewesen. Bishdarielon steckte die kaum unterarmlange Figur - gemessen an seinem eigenen Ärmchen - in den Gürtel und ging ermutigt weiter.
Ein ekliger, muffig-süßlicher Geruch drang in seine Nase. Das Insektengesumm, das bislang nur Begleitmusik zu Vogelgezwitscher und rauschenden Ästen gewesen war, wurde lauter. Fette Schmeißfliegen schwirrten herum. Angewidert verzog er sein Gesicht. Verwesungsgeruch.
Hiaaahaaahaaa….Totomp…Totomp…. Das Schnauben und ein viel zu großer Schatten direkt vor ihm ließ ihn sich sofort wieder ängstlich hinter einem bemoosten Felsblock ducken.
Das schwarze Untier tänzelte im fahlen, freudlosen Licht, das zwischen den Baumkronen herunterstrahlte wie durch schmale Fensterlöcher in einen Tempel voller Traurigkeit. Das Ungetüm schnaubte, stampfte, Metall klirrte. Der Gestank ging eindeutig von ihm aus. Bishdarielon ertappte sich bei einem Moment der Furcht – würde ihn der Zombiegaul, ein Warunker im Wortsinn, angreifen und niederzutrampeln versuchen: ein Knirps seiner Größe hatte keine Chance. Aber nichts dergleichen geschah. Die niederhöllische Schindmähre war zum Glück festgebunden, an einem schweren, weitverzweigten Ast.
Das Tier hatte mehr Angst vor ihm als umgekehrt. Obwohl es einfach nur grauenerregend aussah mit seiner glitschig verwesenden Haut, der schmutzigen Mähne, den herunterhängenden Fellfetzen, den morschen Hufen und den hier und dort herausragenden Knochen. Auch der nachtschwarze Sattel und das silberbeschlagene Zaumzeug wirkten ebenso beeindruckend wie abstoßend. Vor allem stank das Streitross der Niederhöllen bestialisch – und es apfelte… Der Golgarit stutzte. Kein Zweifel, es waren dampfende Pferdeäpfel, die dort auf den Waldboden fielen. Das Vieh hatte noch eine verdammt gute Verdauung – für so einen untoten Kadaver. Misstrauen überwältigte seinen Ekel und die kindliche Furcht. Irgendetwas stimmte hier nicht, zusätzlich zu all dem, was ihm jetzt schon nicht behagte. Vorsichtig näherte sich der geschrumpfte Krieger dem aus seiner Sicht riesigen Warunker: Er hatte Pferde immer gemocht, schon in Al´Anfa ein Händchen für sie gehabt. Nach einigem Stampfen und Schnauben gestattete ihm das Tier, den Zügel zu ergreifen. Es war eindeutig lebendig – die Fellfetzen schienen angeklebt zu sein. Und sein Fell hatte man mit irgendeinem widerwärtigen Zeug getränkt, das süßlich nach Aas stank. Fliegen summten schwerfällig in den Ausdünstungen umher. Das Tier wurde kopfscheu. Bishdarielon spürte seine Kraft, hatte Mühe, dagegenzuhalten.
„Ruhig, mein Hübscher, ruhig. Das heißt, eigentlich bist du ziemlich hässlich. Wer hat dir das angetan?“ Bisch rieb über die vermeintlichen Rippenknochen und betrachtete seinen Finger: an ihm klebte skelettweiße Farbe. Auch die Hufe waren mit irgendetwas Ekligem beschmiert, um sie maroder aussehen zu lassen. Roßtäuschen einmal genau anders herum…Irgendwelche Taschen waren an den dunklen Sattel gepackt, aber von unten, mit einer Hand am Zügel, kam er einfach nicht heran.
Bishdarielon sah sich um. Der Junge band das Tier von seinem Ast los, führte es zu einem schemelähnlichen Felsblock, stellte sich darauf, wandte sich den beiden Satteltaschen zu. In seiner Größe, mit den ungeschickten Fingern, war es gar nicht so einfach, die erste zu öffnen: Mit Mühe fingerte er einen Beutel hervor, der ihm in die Hand fiel.
Darin wimmelten Maden, als wäre der Reiter unterwegs zum Angeln. Angeekelt verzog er das Gesicht, warf das Gezücht fort – sollten sich die Vögel des Waldes daran laben. Ein Glitzern im Gras lenkte seine Aufmerksamkeit ab: Eine Phiole, die er unbemerkt mit aus der Tasche gezogen hatte. Das verkorkte Glas war leer, bis auf den letzten Rest einer bläulichen Flüssigkeit. Bisch zog den Stöpsel heraus, ging etwas von der stinkenden Schindmähre weg und schnupperte an dem verbliebenen Tröpfchen: Es roch betörend, nach exotischen Kräutern, erinnerte ihn irgendwie an den Dschungel des Tiefen Südens. An noch etwas anderes, Vertrautes - ohne dass er es in Worte zu fassen vermochte. Womöglich irgendeine Droge, denn selbst von der geringen Menge wurde dem Kind schwindlig im Kopf. Es fühlte sich schläfrig, eingelullt, trotz der frischen Luft überall um ihn herum war ihm schummrig zumute…Hastig korkte Bisch die Phiole wieder zu. In der anderen Satteltasche fanden sich zwei weitere Fläschchen, diesmal bis zum Rand mit diesem hesindigoblauen Zeugs gefüllt. Sah ein wenig aus wie leuchtende, mit Wasser verdünnte Tinte. In einer Lederscheide stak ein spitzer, stilettähnlicher Dolch. Er zog ihn heraus, sah das nahe dem Griff eingeätzte Emblem. Das Gefühl der Vertrautheit wurde immer stärker. Zwiespältige Empfindungen kämpften in seinem Inneren, als er die kleine schwarze Hand sah. Längst vergessene, nein, verdrängte Gefühle stiegen in ihm hoch wie Blasen aus einem bunt schillernden, faulig blubbernden Sumpf. Langsam dämmerte Bishdarielon die Wahrheit… Loyalität ist ein furchtbares Wort, Bishdarielon. Vor allem in der Mehrzahl. Der Adelige musste grimmig lächeln, als er an die Worte seines damaligen Lehrmeisters dachte. Zynische Worte, natürlich zynisch. Bishdarielon lächelte versonnen, sah sein Gesicht, das sich matt und verschwommen auf dem dunklen Stahl spiegelte. Der Friedwanger ertappte sich dabei, wie er das Schwertgebet der Garde murmelte. Dies ist Seine Klinge. Es gibt viele Klingen, aber diese hier tötet für Boron. Bishdarielon überlegte sich, ob er die Waffe an sich nehmen sollte. Bei seiner Grolmengröße taugte die fast schon zum Kurzschwert. Aber das ölige Schimmern an ihrer Spitze behagte ihm überhaupt nicht. Vermutlich vergiftet…nein, ziemlich sicher sogar. Tödlich sicher. Und so scharf, dass selbst Sauberwischen gefährlich werden könnte. Mit leichter Verachtung stieß er den Dolch wieder in die Scheide und schob diese zurück in die Tasche. Wahrscheinlich würde er seine Entscheidung bald schon bereuen. Sei´s drum. Möge Rondra mich beschützen….und Boron mir noch etwas Zeit geben, meine Sünden zu büßen.
Krah…kraaah…kraaah….kraaah. Unruhige Silhouetten flatterten, schwirrten über den Baumwipfeln. Die Krähen…die gab es auch noch. Er versicherte sich der Gegenwart des Federsteins an seinem Hals, aber der Schwarm kümmerte sich nicht um ihn. Die schwarzen Vögel sammelten sich in der Nähe über den Bäumen und begannen dort zu kreisen. Als hätten sie dort ein echtes Aas entdeckt. Ich glaube, ich weiß jetzt, wer dieses Rabenaas ist. Er folgte dem Trampelpfad, sah vor sich Mauerreste aus Naturstein aufragen. Die Überreste irgendeiner Zivilisation mitten in diesem Urwald hatten etwas Gespenstisches an sich, zusammen mit den ruhelos flatternden, krächzenden Krähen.
Es waren große, schwarzgraue Schiefersteine, die mal von Moos bedeckt, mal auf den laubbedeckten Boden herabgerutscht, mal in eine der Breschen gefallen waren. Nur an wenigen Stellen waren mehr als zwei oder drei Lagen aus Steinen vorhanden. Wurzeln und kleine Tannen hatten sich in den Spalten breitgemacht. Das Rechteck der einstigen Grundmauer war kaum noch zu erahnen. Einen Steinwurf hinter der „Ruine“ wurde das Gelände abschüssig, das Gebäude, das hier einmal gestanden hatte, schien wehrhaft gewesen zu sein. Ein Waldbauernhof? Vermutlich eher die Reste eines alten Wartturms. Nach Rosenbusch oder ins Oppsteinische war es sicher nicht mehr weit. Tatsächlich, dort vorne, am Abhang war ein „Gebück“ auf einem Erdwall zu erkennen: Ein Gewirr aus heillos ineinander verwachsenen Hainbuchen, zwischen denen wilde Rosen, Brombeersträucher und sonstiges Dornicht wucherten. Eine verwilderte Landwehr. Wollten die Götter ihm damit einen Hinweis darauf geben, dass er an einer Grenze – oder am Ende - angelangt war? Der Trampelpfad ging an den Steinen vorbei, schien vor dem Geheck auf einen weiteren Pfad zu stoßen, der wahrscheinlich parallel zu der Befestigung verlief.
Sein Weg, die Flammenspur, führte zu einer breiten Lücke im Turmstumpf und endete im Geviert zwischen den Steinen. In der Mitte saß er, der Schwarzberobte, wandte ihm den Rücken zu, starrte auf die Feuerkugel vor sich auf dem Boden. Leichen-Ludeger schien in irgendeinen Zauber vertieft zu sein, er rührte sich nicht, die Kapuze hing ihm tief ins Gesicht. Zauberstab und Schnitter lehnten gegen einen einzelnen Baumstumpf. Nur seine bleichen, käsiggelben Hände hatte er erhoben, als wolle er sie am flackernden Feuerschein wärmen. Oder irgendeinen finsteren Götzen huldigen. Ein großer irdener Tiegel stand neben dem Magier, aus welchen Gründen auch immer. Bishdarielon schlich näher, versteckte sich hinter einem Haufen aus Steinblöcken. Der Rücken des Paktierers sah wirklich überaus einladend aus – der Magier bewegte sich keinen Fingerbreit. Zum Glück hatte Bisch den Giftdolch nicht mitgenommen. So war er nun nicht in Versuchung, die Waffe dem Zauberer von hinten ins finstere Herz zu stoßen. Sein Bruder, Francesco . . . der hätte sicherlich keine Skrupel, das Problem auf derart „elegante“ Art zu lösen. Er huschte geduckt die Mauerreste entlang, nach links. Laub raschelte unter seinen Füßen, Ästchen knackten. Schweratmend spähte er durch eine Lücke. Tatsächlich konnte er von hier aus das Innere des zerstörten Turms besser überblicken. Der Schwarze hatte nichts von seiner Ankunft gemerkt, meditierte noch immer. Nun sah er das Ei in voller Pracht.
Die Feuerkugel war groß, eine Trollfaust hätte sie kaum umfassen können, selbst wenn sie kalt gewesen wäre. Das genaue Gegenteil war der Fall. Ein Ei, ein mit Feuer gefülltes, kopfgroßes Drachenei. Die Luft darüber flimmerte und waberte wie in einer Schmiede. Ludwinas geheimnisvolles Artefakt, es existierte also wirklich. Unter ihm war der Boden schwarz verbrannt, einzelne Flämmchen züngelten knisternd aus Tannennadeln und welken Blättern hervor. Es roch rußig, nach Kohlenmeiler. Das Ei leuchtete von innen heraus wie ein großer Brocken Lava, nein, es glühte, schien regelrecht aus glutflüssigem Metall zu bestehen. Außerdem strahlte und gloste es eine gewaltige Hitze aus. Das Licht wirkte sanft und überderisch, wie bei einem riesigen Gwen-Petryl-Stein. Dennoch lag etwas überaus Beunruhigendes, Beklemmendes darin. Die Andeutung einer Düsternis kroch heraus, die nicht zu dem unruhigen Feuerschein passen wollte. Tatsächlich, der Leuchtstein pulsierte leicht, und erinnerte an den Herzschlag eines Drachen – oder war es Bischs eigenes Herz, das ihm jetzt im Gleichtakt bis zum Halse klopfte? Dieses…Ding hatte sich schon einige Fingerbreit in die geschwärzte Erde gefressen, als wäre es, wie ein Schweifstern, einfach vom Himmel gefallen. Ein Drachennest, das war das andere, an das Bishdarielon die Kuhle erinnerte. Nun sah er es. Irgendetwas bewegte sich im Inneren des Eis, gleich einem Embryo: Ein Phönix oder kleiner Drache aus purem Feuer? Was immer es war, der Zorn über seine Einkerkerung schien von Herzschlag zu Herzschlag zu wachsen: E s wartete, lauerte darauf, endlich schlüpfen und die Welt unter seinen lodernden Schwingen in Brand setzen zu dürfen.
Der Magier im Wald, vor ihm das Feuerei, der rotierende, kreischende Schwarm der Krähen am Himmel: es war ein endzeitliches Bild. Immer mehr der schwarzen Vögel ließen sich jetzt auf den Baumwipfeln der Umgebung nieder. Als wollten sie an dem Ritual teilhaben.