Entführung des Prinzenpaares - Erlenschloss

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Autor: Blauendorn


Erlenschloss, 1031

Tatsächlich wäre die weitere Fahrt unter anderen Umständen eine beschauliche Winterreise geworden. Herr Firun hatte für den Rest des Tages ein Einsehen und ließ den Himmel immer wieder aufklaren. Der jungfräuliche Schnee glitzerte im Licht der langsam zu den Koschbergen wandernden Sonne.
Doch der Prinz war still geworden. Je näher man dem Schloss seines Bruders kam, desto öfter schienen seine Gedanken zu ihm und dessen Gemahlin zu gleiten. Edelbrecht hatte erst vor wenigen Jahren seinen Zwillingsbruder Idamil verloren - gefallen bei der Zerstörung von Gareth.
Dennoch hatte er nie einen Gedanken daran verschwendet, dass seinem anderen verbliebenen Bruder etwas zustoßen könnte. Zu sicher und behaglich schien das Leben des älteren Anshold, zu klar vorgezeichnet dessen Weg. Er sollte dem gemeinsamen Vater als Fürst nachfolgen, Erben zeugen und so die Tradition des Hauses Eberstamm im Kosch fortführen.
Erst langsam sickerte der dumpfe Gedanke in Edelbrechts Kopf, dass diese tausend Jahre ein Ende finden könnten. Anshold hat keinen Erben hinterlassen, und er selbst würde nur schwerlich das koscher Erbe antreten können - sein Leben gehörte nun dem stolzen Greifenfurt. Er zwang sich, die dunklen Gedanken beiseite zu schieben - noch hatte niemand den Tod seines Bruders vermeldet, und er würde alles tun, damit es so bliebe.
Ohne das hinderliche Gestöber kam man erfreulich schnell voran. Vorbei an in Zuckerguss gehüllten Dörfern und Städtchen mit Namen wie Bauersglück, Trallik oder Alt-Garnelen. An einer Stelle, an der nicht weniger als sechs Wege aufeinandertrafen, bog man scharf rechts ab, in einen dichten Wald. Das silberne Glitzern des Firns wich goldenem Staub, der hin uns wieder von den Ästen rieselte. Im Schatten des Waldes brach die Nacht schnell herein. Das Praiosmal versank schnell hinter den Gipfeln des Kosch, und man war gezwungen, eine kleine Weile in Dunkelheit zu reiten, ehe einige Lichter, die sich in einem See spiegelten, ein Gebäude ankündigten. Das Erlenschloss - der Wohnsitz des koscher Erbprinzen war erreicht.
Erschöpft glitt der Rittmeister aus dem Sattel. Als er die fernen Lichter zuallererst gesehen hatte, meinte er, sie seien noch Tagesreisen entfernt. Doch schließlich erreichte er das Schloss. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, und auf dem Hof war keine Menschenseele zu sehen. In einem kleinen Wachhäuschen kauerte in der eisigen Kälte ein Soldat und wurde in diesem Moment auf ihn aufmerksam.
„Halt, im Namen des Fürsten, wer da?“ rief er aus.
„Junker Urion von Reiffenberg, Vorhut des Prinzen Edelbrecht vom Eberstamm und von Wertlingen und Hochgeboren Nirwulf, Cantzler des Kosch. Die hohen Herrschaften werden kurze Zeit nach Untergang des Praiosmals hier eintreffen. Eilt zu Eurem Herren und meldet die Ankunft des Prinzen und seines Gefolges und heizt die Küche und die Öfen an, auf dass wir ein warmes Bett bekommen und ein gar köstlich Mahl.“
Der Soldat stob davon und tat wie geheißen. Urion wies Timokles an, auf des Posten Stelle zu bleiben, und begann einen Rundgang um das Anwesen. Er würde sich die Umgebung genauer ansehen, weil hier der schändliche Überfall auf die fürstliche Familie stattgefunden hatte. Mit Spuren konnte er wohl kaum rechnen, zu verschneit waren die Wiesen und Felder ringsum, aber er wollte ein Gespür dafür bekommen, wie er selbst diese Tat ausgeführt hätte, zumal die fürstliche Kutsche dazu benutzt worden war. Und wenn er sich mit etwas auskannte, dann waren es Pferde und Kutschen.
Als die Mauern des Schlosses dem Trupp immer näher gekommen waren, war die Freude auf einen beheizten Raum und eine warme Speise bei Timokles immer weiter gewachsen. Hoffnungen, die nur allzu schnell durch den Befehl des Rittmeisters zunichte gemacht worden waren. So bezog der Knappe den Posten, fror und dachte nach, doch vor allem fror er…
Die Kälte war wie ein unbezwingbarer Feind, gegen den keine Rüstung und kein Mantel Schutz boten. Sie zog vom Boden nahezu ungehindert durch die Stiefelsohlen in seine Zehen und in seinen ganzen Leib, sodass er zitternd wie Espenlaub wenigstens versuchte, durch Stampfen und Schütteln seiner Arme Leben in seine Extremitäten zu bekommen. So wartete er allein mitten in der Nacht am Tor, während aus dem Haupttrakt Licht wilde Schatten auf das verschneite Pflaster des Hofes warf und eine Illusion von gebratenem Wild und warmem Met verhieß.
Doch er wartete. Es war zwar unwahrscheinlich, dass man eines Wächters bedurfte, jetzt, da Phexens Sternenhimmel schon irgendwo hinter den Wolken verborgen sein musste, aber er durfte sich nicht schon wieder einen solchen Schnitzer erlauben. Noch vor wenigen Stunden hatte ihn seine Mentorin Lyeria beiseite genommen und ihn besserer Manieren verwiesen, und dass sie seine Dummheiten und sein Ungeschick bald werde maßregeln müssen, es jedoch nun noch bei einer Verwarnung bliebe. Wenigstens blieb sein stürmischer Ritt ohne Konsequenzen. So wartete er, als er in der Dunkelheit sah, wie sich etwas bewegte.
Urion schlenderte wachsam im Dämmerlicht um das Schloss. Es war nicht sonderlich groß und wirkte weder protzig noch wehrhaft. Es hatte einen einzelnen Turm, eher ein Treppenturm denn ein Bergfried, der am Rand eines kleinen Sees stand. Die Ränder des Teiches waren mit Eisschollen überzogen, doch in der Mitte spiegelte sich der rasch dunkler werdende Himmel. Rings um das Gewässer und das Schloss ragten alte Erlen, Buchen und Eichen ihre kahlen Äste empor. Ein ruhiger und entlegener Ort – doch bot er auch ideale Möglichkeiten für Gesindel, sich zu verstecken, wenn es das Eingangstor zum Grundstück erst mal überwunden hatte.
Der Rittmeister ging weiter und kam schließlich zu einigen Anbauten mit drei großen Toren - seine Vermutung, dass es sich dabei um die Stallungen handeln musste, bestätigte sich. Alle Tore waren verschlossen, Urion sah, dass sie unversehrt waren - doch durch ein vergittertes Fenster konnte er gut einige Rösser sehen, vier Plätze dazwischen waren leer. Dahinter zeichnete sich der Umriss einer offenen Kutsche ab, auch neben ihr gähnte eine größere Lücke.