Im Zeichen der Krähe – Flieg Krähe, flieg!
Baronie Greifenpass, Kamhütten, Tempel unserer gütigen Etilia, Rahja 1041
Als Darian von Trottweiher im Tempel unserer gütigen Etilia eintraf, da glaubte er tatsächlich einen Augenblick lang seine Frau ins Gebet vertieft zu sehen. Bäuchlings sah er sie auf einem Teppich auf dem Boden liegen, die Beine gerade nach hinten gestreckt, die Arme zur Seite und es war der Geruch des Weihrauchs, der ihm schlussendlich den Rest gab. Da hörte er seine Frau weinen, schluchzen, voller Verzweiflung und Ohnmacht, voller Wut auf sich selbst und auf alle anderen um sie herum, selbst auf ihn und nichts, rein gar nichts, was er sagte oder tat, vermochte ihr Linderung zu verschaffen, vielmehr schien alles die ganze Situation nur noch zu verschlimmern. Und er hörte sie wimmern: „Wenn ihr mich so sehr hasst, wenn ich euch so egal bin, warum holt Golgari mich nicht gleich? Warum muss ich weiter leben? Weiter leiden? Was habe ich euch getan, dass ihr mich so verachtet, mich so straft? Warum kann ich nicht einfach tot umfallen? Morgen nicht mehr aufwachen? Warum?“
Die Erinnerung überwältigte den Ritter. Er stürmte nach draußen. Er musste hier weg. Hier raus. Ertrug es nicht hier zu sein. Wie hatte er das damals nur ausgehalten? Wie hatte er das nur überstanden?
„Vater?“, hörte er eine Stimme aus dem Inneren des Tempel rufen. Eilig wischte sich Darian die nahenden Tränen aus den Augen und mahnte sich Fassung zu wahren.
„Vater?“, hörte er erneut die Stimme seiner Tochter, „Vater, seid Ihr das?“
Da trat Ailsa aus dem Tempel heraus. Aus jenem Tempel, in dem früher seine Frau auch immer gebetet und den Herrn von Tod und Schlaf um Beistand gebeten hatte, damals, als dieser Tempel noch ein richtiger Tempel gewesen war.
„Vater?“, fragte sie erneut.
„Ailsa, ich bin hier!“, erwiderte er ihr da endlich und versuchte sich an einem Lächeln. Dann fielen sich Vater und Tochter in die Arme, so wie sie es immer taten, bei jedem Wiedersehen. Und obgleich er sich redlich bemüht hatte, sich nichts anmerken zu lassen, musste Ailsa doch irgendetwas bemerkte haben, denn sie wollte besorgt wissen: „Ist alles in Ordnung? Ihr seht so blass aus!“
„Der Weihrauch...“, entschuldigte er sich eilig.
„Oh!“, machte Ailsa da nur schuldbewusst, „Das habe ich... ich vollkommen vergessen. Ich weiß doch, dass er Euch nicht gut tut...“
„Schon gut!“, versicherte der Ritter da nur nickend. Seit damals konnte er den Geruch nach Weihrauch nur schwer ertragen. „Du wolltest mit mir sprechen?“
Da reichte ihm seine Tochter ein Stück zerknittertes Papier.
„Was ist das?“, fragte er.
„Garether Tagespostille“, antwortet Ailsa knapp.
Verwirrt schaute er sie an: „Woher hast Du die denn?“
„Von Scanlail!“, seufzte die Ritterin als würde das einfach alles erklären, „Sie war mal wieder im Plunderhaus. Nachdem sie dort gespielt hat und sie gerade etwas essen wollte, trat ein Händler dort auf und bot Steine an Lederbändern gegen Dämonen an.“
„Ach den!“, der alte Ritter winkte ab, „Den kenne ich. Der kommt regelmäßig. Hat immer irgendwelchen Tand dabei. Teuren, unnützen Tand. Wie viel hat er denn dieses Mal für seine... hm... Amulette verlangt?“
„Zehn Dukaten.“
Darian schüttelte lachend seinen Kopf: „Zehn Dukaten? Für einen Stein an einem Lederband?“
„Der gegen Dämonen schützen soll“, fügte seine Tochter übertrieben nickend hinzu.
„Ich nehme an Scanlail hat ihm ordentlich das Geschäft versaut?“
Nun lachte Ailsa: „Sie hat wohl durch das ganze Gasthaus gebrüllt: ‘Wenn ihr schon immer gefürchtet habt, beim Scheißen von einem Dämon geholt zu werden, dann kauft dieses Amulett. Für nur zehn Dukaten könnt ihr euch sicher sein, dass er euch erst danach holt und ihr sauber nach Alveran einziehen könnt.’“
Der Ritter lachte so herzlich, dass er sich die Tränen aus den Augen reiben musste: „Ja, das ist meine Tochter. Ganz ohne Zweifel. Die Wortgewandtheit, die hat sie eindeutig von mir!“
Da musste Ailsa schmunzeln. „Er hatte diese Postille dabei. Er begründete nämlich die Notwendigkeit, bei ihm so ein Amulett zu erwerben damit, dass es in der Dämonenbrache wieder zu unheiligen Umtrieben gekommen sei und es ja jederzeit - auch im Kosch - zu solcherlei Vorkommnissen kommen könne.“ Dann deutete sie auf einen Artikel: „Hier.“
Darian las. Manchmal nickte er zustimmend. Manchmal schüttelte er seinen Kopf. Am Schluss lächelte er seine Tochter an: „Du willst es versuchen?“
Etwas verunsichert zuckte sie mit ihren Schultern: „Ich bin mir nicht sicher.“
„Warum?“, entfuhr es dem Ritter da sichtlich fassungslos, „Das ist doch...“
„Mutter würde gewiss schrecklich weinen!“, unterbrach sie ihn ernst.
„Ach, Ailsa, Eure Mutter wird immer weinen!“, wies er ihre Bedenken zurück, „Sie liebt Euch eben und deswegen weint sie und das - das kannst Du mir glauben - wird sich nie ändern. Niemals! Kein Grund also, es nicht zu versuchen.“
Seine Tochter schwieg einen Augenblick, ehe sie betreten fragte: „Was mach ich denn, wenn sie mich nicht wollen?“
„Was machst Du denn, wenn Du beim ritterlichen Zweikampf verlierst?“
Ailsa starrte ihren Vater verständnislos an.
„Du gehst erhobenen Hauptes hin, bedankst Dich für die Ehre, gehst erhobenen Hauptes dort wieder raus und heulst in der darauffolgenden Nacht in Dein Kissen.“
„Ich hab noch nie in mein Kissen geheult!“, widersprach sie energisch.
„Da haben mir Deine Schwestern aber was anderes erzählt...“
„Ach”, schimpfte Ailsa, „Diese alten Petzen!“