Die Rabenschnäbel : Teil 2
Briefspielgeschichte der Golgariten
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Burg Mersingen, Anfang Boron 1030 BF
Etwas gehetzt blickte sich der Knappe Timokles um und vergewisserte sich, dass niemand in der Nähe war, der etwas von dem Treffen mitbekommen würde, dann atmete er kräftig durch und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er blickte in das erwartungsvolle Antlitz der Golgaritin, das keinen Funken eines Gefühls zu erkennen gab, nur ihre Augenbrauen hatten sich unmerklich, etwas irritiert zusammengezogen. „Aquileya von Erzfeldt?“ Ohne eine Antwort abzuwarten sprach der Knappe weiter: „Mir wurde etwas für Euch übergeben.“ Mit diesen Worten ließ er das Bündel, dessen Inhalt er vorher noch möglichst gut verborgen unter seinem Arm getragen hatte, von der Schulter rutschen und hielt es ihr entgegen. „Ich weiß nicht, wer es mir gab. Ich weiß nicht, was es mit dieser Waffe auf sich hat oder warum ich sie Euch übergeben sollte. Ich weiß nur, dass Ihr der Adressat seid. Sonst bin ich unwissend, ich bin nur der Bote, und diese Unwissenheit mag mir schier den boronheiligen Schlaf rauben. Vielleicht könnt Ihr etwas Licht in die Dunkelheit meines Geistes bringen und die Gründe dieses Vorfalles erläutern.“ Wie Smaragde stachen seine grünen Augen hervor und bohrten sich in den Blick seines Gegenübers, als Aquileya das Bündel aus seiner Hand nahm.
Die dünnen Finger umschlangen das längliche Bündel, das des Knappen Hände noch locker stützten, umspielten wie unentschlossen den verhüllenden Stoff. Wie ein Stich bohrte sich plötzlich etwas in Aquileyas Stirne, der Schmerz verzerrte ihre Miene. Auf ihren Ruf – beim Konsistorium in Stille verklungen – erhielt sie eine kurze Antwort, die lichterloh brannte. Dann war der Moment vorübergezogen und sie sah Timokles’ fragendes Gesicht wieder vor sich. „Was hast du mir da gebracht?“ Die geflüsterten Worte schienen zu knistern, dünn wie braunes Laub im Herbstwind, kurz bevor ihre verwelkende Kraft erlischt und sie sich nicht mehr an ihren Baum klammern können. Schnell, aber dennoch liebevoll, wickelte die hagere Ritterin das Bündel aus. Der Rabenschnabel kam zum Vorschein. Schwarz, so schwarz... Der Stoff fiel achtlos beiseite. Nur die Waffe verblieb in Aquileyas Händen. Ein Rabenschnabel, wie ihn eine jede Ordensschwester und ein jeder Ordensbruder führte. Wie sie selbst auch. „Wer...?“ hauchte Aquileya Timokles tonlos entgegen und drehte den Knauf direkt vor ihren Augen, die etwas erkannten und sich daraufhin weiteten. Auf einmal schien es Timokles, als wollte die Waffe sein Gegenüber zu Boden drücken. Er sah, wie der Rabenschnabel sich in der Luft drehte, wie die dürren Hände an seinem Knauf zitterten. Dann wandte sich der Kopf der Waffe zu Boden und schlug dumpf auf, und vor Timokles’ Augen ging auch die Ritterin Aquileya zu Boden. ...wie die Nacht... ...dunkelste Nacht... und Feuer... Schwarzes Feuer. „Bruder?“