Das Koscher Totenbuch – Einohr

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Texte der Hauptreihe:
Fir 1044 BF
Einohr


Prolog 11

Autor: Nale

In einem Wald unweit von Oberkosch, Firun 1044 BF

Berna, die Alte war wirklich alt. Uralt. Sie war schon so alt, dass es fast nicht mehr wahr sein konnte und dennoch war sie es. Inzwischen mussten es weite über 100 Götterläufe sein. Ungewöhnlich alt war sie für eine Dienerin des Weißen Jägers geworden. Zumal sie ihr genaues Alter schon gar nicht mehr kannte. Irgendwann hatte sie einfach aufgehört die Götterläufe zu zählen. Was bedeutet schon ein Götterlauf mehr? Oder zwei? Doch sie hatten sich bemerkbar gemacht: Sie war gebrechlich geworden. Ihr Augenlicht hatte sie verloren, obgleich sie an guten Tag noch hell und dunkel unterscheiden konnte. Ihre Knochen und Gelenke schmerzte, waren steif und starr geworden. Und die tiefe Wunde, die ihr damals dieser Bär zugefügt hatte, hatte ihr Bein gänzlich unbeweglich gemacht. Gewiss wäre sie fast gestorben, doch diese Schneefelserin hatte sie damals gefunden und – dafür grollte sie ihr heute noch – gerettet. Wie lange war das nun her? Sie erinnerte sich nicht. Durch die Hilfe der Ifirn-Geweihte hatte sie überlebt und hatte immer darauf gehofft diesem Tier noch einmal zu begegnen, um die Sache zu Ende zu bringen: So oder so. Ein Leben würde verlöschen. Doch die Hoffnung darauf schwand. Ihr Zustand besserte sich nicht.

Und dann kam jener Morgen. Jener Morgen, der alles veränderte, denn an diesem Morgen fühlte sie sich stark und kräftig. Unfassbar stark und kräftig. So hatte sie sich seit Götterläufen nicht mehr gefühlt. Zudem war ihr Augenlicht teilweise zurückgekehrt. Ihr steifes Bein war nur noch ein bisschen steif. Ihr Knochen und Glieder schmerzten fast gar nicht mehr. An diesem Morgen konnte sie aufstehen, das war ihr seit langem nicht mehr richtig gelungen.

Es war ihr Herr, das war der Firun-Geweihten absolut klar, der ihr diese Gnade erteilte. Oftmals hatte sie sich gefragt, warum er sie so lang am Leben hatte lassen, warum er sie nicht zu sich geholt hatte. An diesem Morgen begriff sie jedoch, dass er es getan hatte, weil es etwas für sie zu tun gab. Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Noch heute. Eine Aufgabe in seinem Namen.

Berna folgte dem Ruf ihres Herren. Sie folgte ihm in den Wald hinein. Immer weiter und weiter folgte sie. Ihren Stock hatte sie zurückgelassen. Sie würde ihn nicht mehr brauchen. Sie würde ihn nie wieder brauchen. Dieser Tag, das wusste sie, das spürte sie, war ihr letzter Tag. Heute würde es enden.

Und dann, dann hörte sie sein Brüllen. Ja, es war sein Gebrüll. Ohne Zweifel, das war er. Er, der Bär. Er, der ihr fast das Leben gekostet hatte. Einohr, weil sie ihm damals das linke Ohr im Kampf um Leben und Tod abgebissen hatte. Berna beschleunigte ihre Schritte. Immer schneller und schneller wurde sie. Die Kraft ihres Herren erfüllte sie immer mehr. Durchflutete sie. Stärkte sie. Kräftige sie. Formte sie. Verformte sie. Ihre Knochen veränderten sich. Muskeln, Sehnen und Fleisch passten sich an. Ihre Hände und Füße hatten sich in riesigen Pranken verwandelt. Nun lief sie auf allen Vieren und kam so wesentlich schneller voran. Der Schnee stob nur so um sie herum. Unter ihr bebte die Erde. Ein mächtiges, bedrohliches Brüllen entrann ihrer Kehle. Da tauchte auch schon der Bär vor ihr auf. Ein großer Brauner war es. Einer mit einem abgebissenen linkem Ohr. Sie hielt weiter auf ihm zu und warf sich mit einem noch kräftigerem und noch bedrohlicherem Brüllen mit aller Macht gegen ihn...

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Hoch oben in den unbelaubten Bäumen saßen zwei weiße Raben.