Des Ebers Stamm am Scheideweg Teil 2
Teil der Briefspielgeschichte Die Entführung des Prinzenpaares
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Golgariten-Kloster Garrensand, einige Wochen zuvor ...
Tann hatte keine Ahnung, was von ihm wirklich erwartet wurde. Diesen Flügel Garrensands kannte er nicht, und er war gewöhnlichen Ordensleuten auch nicht zugänglich. Wenn er durch das trübe Fensterglas sah, konnte er den Rabenturm recht nahe erkennen, aufragend wie der mahnende Zeigefinger des spitzzüngigen Abtes, der ihn vor einigen Tagen hier an der Tür postiert hatte mit der eindringlichen Anweisung, stets achtsam zu sein.
Doch Tann wusste beim besten Willen nicht, worauf er hätte achtgeben sollen. Es gab hier nichts außer dem Staub, der dann und wann in einem niedrigestehenden, verirrten Spätherbstsonnenstrahl tanzte, und der Türe in seinem Rücken, die immerfort verschlossen war und hinter der absolute Stille herrschte.
Vom übrigen Klosterleben bekam er kaum etwas mit - wie ein Gefangener auf einer Insel inmitten eines weiten Sees. Die Stunden dehnten sich schier unendlich, und je mehr er wartete, desto schlimmer wurde es. Seine Gedanken waren ihm nur ein undankbarer Gefährte. Und nach dem dritten Tag der Wache, die nur durch kurze Schlafpausen unterbrochen war, wurde Tann endgültig ungeduldig. Er begnügte sich nicht mehr damit, zufrieden auf dem Hocker zu sitzen und abzuwarten, bis die Stunden verrieselten. Er erhob sich immer öfter, marschierte unruhig vor der Tür auf und ab.
Und schließlich tat er, was ihm absolut verboten worden war: Er betätigte den Verriegelungsmechanismus der Tür. Doch was auch immer er erwartet hatte: Natürlich tat sich nichts, und seine heißen Finger ruhten vergebens auf dem kühlen Metall. Es musste noch ein weiteres, verstecktes Schloss geben, das die Türe sicherte. Als er sich jedoch, zu etwa gleichen Teilen enttäuscht und erleichtert, wieder abwenden wollte, vernahm er ein leises Wimmern, das gedämpft durch das Holz der Tür an sein Ohr drang und sich keinen Augenblick später in gellende Schreie verwandelt hatte. Das genügte. Tann sprang entsetzt auf.
„Er wird sich daran nicht mehr erinnern können, Ehrwürden, habt keine Sorge. Diese Erinnerung ist ab sofort wie in ein dunkles Tuch geschlagen, das sein Geist nicht mehr aus eigener Kraft zur Seite ziehen kann.“
Der Abt nickte gestreng.
„Ich habe nichts anderes erwartet.“
Kein Wort des Dankes kam über seine Lippen. Nachdem er den Besucher recht schnell hinaus geleitet hatte, erging sich Calamun ya Sfardas de Ysarti sofort in tiefreichenden Grübeleien. Der Schläfer, eines der bestgehüteten Geheimnisse des Klosters, war erwacht. Doch die Botschaft, die der von Boron und Hesinde gleichermaßen Berührte überbracht hatte, war hauptsächlich eines: unverständlich, und Calamun hatte das dringliche Gefühl, dass ihm nicht viel Zeit gegeben war, des Rätsels Lösung zu entschlüsseln. Seufzend ging er ans Werk.
Während der Abt seinen Gedanken nachhing und selbst uralte Literatur aus seiner Privatsammlung bemühte, ging Tann, der bereits nicht ganz freiwillig vergessen hatte, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte, seinen ganz alltäglichen Verrichtungen und Knappenpflichten nach. Er ahnte noch nicht, dass das Geheimnis, dem er bis auf eine versperrte Tür so nahe gewesen war und an dem er nun keinen Anteil mehr haben durfte, ihn trotzdem schon wieder in sein Gravitationsfeld zog. Und so befand er sich einige Zeit später bei genau jenem kleinen Trupp von Ordensleuten, die vom Abt ausgesandt wurden – offiziell in unbekannter Mission.
Calamun ya Sfardas glaubte, zumindet einen Teil der Botschaft erfolgreich entschlüsselt zu haben. Er hatte seit dem Erwachen des Propheten keinen ruhigen Schlaf mehr finden können und Tag und Nacht gebrütet, was die scheinbar sinnlosen einzelnen Worte im Zusammenhang bedeuteten. Zumindest das erste Ziel des Weges schien ihm nun klar.
Umso zufriedener war er, als die Abordnung, deren Mitglieder er ganz gezielt zusammengestellt hatte, das Kloster gen Fürstenhort verlassen hatte. Wie so oft stand er noch lange an seinem Fenster und blickte hinaus über das Land, bis sich sein Blick in der Unendlichkeit verlor.
Währenddessen kämpfte sich die Schar Golgariten um Ritter Fendan Rabenblick unermüdlich auf ihrem Weg voran. Zunächst die Treidelstraße am Großen Fluß entlang, der dieser Tage grausilbern seine Wassermassen durchs Land schob, dann per Fähre auf die andere Seite hinüber und den Grevensteig hinauf. Die weißen und grauen Mäntel wurden fester gezurrt gegen die aufkommende Kälte.
Antara hatte die Kapuze ihres Mantels tief ins Gesicht gezogen gegen den kalten Wind. Trotzdem war sie kurz davor mit den Zähnen zu klappern. Wehmütig dachte sie an die warmen Straßen und Gassen Punins zurück. Dort würde jetzt die ausgelassene Freude der Weinfeste so langsam abklingen und der eher besinnlichen Stimmung Platz machen, die sich während der Tristeza über das Land legte. Aber der Frühling würde wieder kommen und Wärme bringen, ohne daß es je so kalt geworden wäre, wie es hier bereits an diesem Morgen im Spätherbst war.
Fast bedauerte sie es, daß sie ihren Ritter, den Landmeister zu Punin, darauf gedrängt hatte sie nach Garrensand in das Hauptkloster des Ordens ziehen zu lassen. Aber sie hatte es endgültig satt, immer nur die Secretaria des Landmeisters zu spielen. Dafür war sie dem Orden nicht bei getreten, da hätte sie auch gleich einfache Geweihte im Tempel bleiben können.
Der Herr Boron hatte wohl ein Einsehen mit seiner unzufriedenen Dienerin gehabt, jedenfalls ergab sich gleich nach ihrer Ankunft, daß eine Abordnung des Ordens zur Fürstenburg gesandt wurde. Ohne weitere Fragen zu stellen hatte sie darum gebeten, ein Teil der Abordnung zu sein, und nun war sie hier. Das versprach jedenfalls eine geeignetere Bewährungsprobe für eine angehende Ritterin zu werden als Briefe diktiert zu bekommen. Da war etwas Zähneklappern ein geringer Preis.