Unter dem Schleier - Lebensbeichte

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Hundseck, 27. Travia 1043

Ein Dutzend Echte Koscher erwarteten sie bereits im Hundseck. Den Ritter und seine Pagin freudig, die Novizin mit Argwohn und lautem, durchdringenden Gebell. Selbst nachdem Miljan von Pul seine Hunde zur Ruhe ermahnte hatte, beäugten sie jede noch so kleine Bewegung Marboliebs mit äußerstem Misstrauen und folgten ihr auf Schritt und Tritt. Selbst als sie im Kreis der Familie zu Abend aß, war sie immer noch im Fokus der Hunde. Die saßen unter dem Tisch und darum herum und warteten darauf, dass etwas Vielversprechendes zu ihnen herabfiel. Tat es auch hin und wieder, wofür Larjan und Rihinja, die Kinder des Ritters, sorgten. Dazwischen aßen die Kinder auch und warfen immer wieder verstohlen neugierige Blicke zu Marbolieb, auch wenn sie nichts zu fragen wagten. Anschließend zog sich die Novizin in die Kammer, die man ihr für die Nacht überlassen hatte, zurück. Sie hatte sich gerade eben auf das Bett gesetzt, da klopfte es an ihre Tür und der Ritter kam herein. „Verzeiht, Schwester Marbolieb“, hob er an, „Ich habe meiner Mutter von Euch erzählt und sie bat... bat mich Euch zu bitten, zu ihr ans Krankenbett zu kommen. Sie möchte die Lebensbeichte ablegen.“

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„Meine Mutter“, stellte der Ritter die bettlägerige, blasse Frau mit den eingefallenen Wange vor, „Palina von Pul.“

„Es ist schön, dass Ihr gekommen seid, Schwester Marbolieb“, grüßte die Hausherrin sie mit einem schmerzvollen Kopfnicken, „Schon geraume Zeit vernehme ich den stetig lauter werdende Flügelschlag Golgaris. Noch ziert er sich...“ Sie rang sich ein müdes Lächeln ab. „Aber er scheint auf dem Weg.“

„Seid unbesorgt“, erwiderte Marbolieb und ergriff die Hand der Kranken, während sie sich an ihr Bett setzte, „Mein Herr vergisst nicht. Niemals.“

Die alte Frau atmete hörbar ein und aus.

„Schlaft gut, Mutter“, Miljan von Pul hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, „Möge Boron Euch schöne Träume schenken.“ Dann ließ er die beiden Frauen allein.

Hochwürden war schon hier“, hob die Hausherrin an, nachdem ihr Sohn den Raum verlassen hatte, „Sie hat mir das hier gegen die Schmerzen gegeben.“ Sie zog ein kleines Fläschchen unter ihrer Decke hervor und reichte es Marbolieb. Die erkannte die Machart sofort und nickte. „Sie hat mir dadurch einige schöne, schmerzfreie Tage geschenkt. Ich konnte meine Angelegenheiten regeln. Nun aber neigt sich meine Zeit auf Dere dem Ende entgegen. Das Fläschchen ist leer und Hochwürden hat mir sehr deutlich gemacht, das es dann an der Zeit ist mich bereit zu machen...“ Mit ihren müden Augen schaute sie zur Novizin auf. „Und bevor ich sterbe möchte ich meine Seele um jene Dinge erleichtern, die seit langer Zeit schwer auf ihr lasten.“

Marbolieb nickte aufmunternd: „Eine schwere Last zu teilen, kann sehr erlösend sein.“

„Es... es... es... es geht um...“, wisperte die alte Frau und schloss ihre müden Augen, „... meine Schwester.“ Marboliebs Herz schlug schneller. „Sanja.“ Sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen. „Ich habe Schuld auf mich geladen.“ Die Novizin erstarrte. „Große Schuld.“ Palina hielt für einen Moment inne. „Ihr müsst wissen, meine Schwester war... war... sie war... nicht normal. Sie... sie... sie hatte die Gabe oder... oder vielmehr den Fluch. Madas Fluch. Sie ist nicht die Erste in unserer Familie. Sie wird auch nicht die Letzte bleiben.“ Ihre Gedanken glitten einen Moment zurück in die Vergangenheit. „Doch in ihr war sie stark. So stark.“ Sie lachte kehlig. „Sanja konnte mit den Menschen spielen. Schon als Kind konnte sie das. Und je älter sie wurde, desto schlimmer wurde es und desto öfter bekam sie genau das, was sie wollte. Es schien, als wären ihr keine Grenzen gesetzt, als könnte sie alles mit ihren Kräften erreichen. Und so geschah es auch mit der Rían. Sie machte sie verliebt in sich. So eine Liebe, durch Hexerei heraufbeschworen ist so stark, dass daneben alles in den Hintergrund tritt. Da hatte sie es endlich geschafft, während unserer Mutter es immer wieder gelang, sich ihrem Einfluss zu entziehen, gelang der Rían das nicht. Sie erlag der Hexerei meiner Schwester. Selbst heute glaubt sie noch immer sie zu lieben.“ Nun schüttelte sie ihren Kopf. „Ich habe es nicht geschafft ihr zu sagen, dass Sanja das alles absichtlich getan hat, dass sie nur mit ihr gespielt hat, dass das ganze Leben für sie ein Spiel war. Ich habe oft daran gedacht, aber was sollte das nützen?“ Fragend blickte sie die Novizin an. „Es ist nicht so, dass Sanja ein schlechter Mensch war, aber sie war auch kein guter. Vielleicht war es Madas Fluch, die Begabung Dinge zu tun, zu denen andere nicht fähig waren, die ihre Seele korrumpierten. Vielleicht war die Verlockung zu bekommen, was man wollte, einfach zu groß. Vielleicht wäre auch ich ihr erlegen...“ Palina atmete schwer. „Im Dorf haben sie geredet. Sie haben alle über sie geredet. Hinter vorgehaltener Hand. Man erzählte sich, sie habe das zweite Gesicht, würde Dinge sehen, die Zukunft oder gar den Tod der Menschen vorhersagen können und gar manche behaupteten, sie verlöre ihre Kräfte, wenn sie eine Nacht mit einem Mann verbrächte. Ich weiß nicht, wie die Leute auf solch einen Unfug kamen, ich habe nie etwas davon geglaubt. Ob sie es den Menschen selbst in die Köpfe gepflanzt hat, damit sie sich vor ihr fürchten?“ In ihrer Mimik stand Abscheu. „Ich habe sie gehasst, Schwester Marbolieb. Ich habe sie so sehr gehasst. Weil... weil sie mich immer wieder Dinge tun ließ... Dinge, die...“, nun verstummte sie einen Moment, „Und... und ich war froh, als sie dann endlich das Hundseck verlassen hatte. Ich war so froh, endlich nicht mehr unter ihrem Einfluss zu stehen und ohne ihre Einmischung meine Kinder zu bekommen und sie großzuziehen. Später, viel später, kam sie zu mir. Es war im Jahr des Feuers. Sie kam zu mir und bat mich um Hilfe, faselte wirres Zeug, von einem Feuer in Angbar, das vielen Menschen den Tod brächte. Ich jagte sie mit meinen Hunden vom Hof.“ Sie lachte. „Ich habe sie noch nie so schnell laufen sehen. Auch wenn sie meine Schwester war, sie hat... sie hat mir so viele schreckliche Dinge angetan, so viele und dann kam sie plötzlich bei mir einfach so vorbei und wollte... meine Hilfe?“ Die Hausherrin schüttelte ihren Kopf. „Nein. Nein, ich konnte sie ihr einfach nicht geben. Ich konnte einfach nicht. Vielleicht... vielleicht ist sie wegen mir in Angbar gestorben. Verbrannt.“ Sie schluckte schwer. „Es muss ein schlimmer Tod gewesen sein, dem... dem sie selbst mit ihren Hexenkräften nicht entkommen konnte.“

Marbolieb hatte die ganze Zeit über regungslos zugehört und kein einziges Wort verloren. Doch in ihrem Kopf, da schwirrten die Gedanken nur so durcheinander. Verzweifelt versuchte sie, das unterschiedliche Wissen über ihre Mutter zu einem Bild zusammenzufügen, doch vergeblich.

Die Kranke war etwas tiefer in ihre Kissen gesunken. Ihre müden Augen hatte sie geschlossen. „Es ist gut, dass Ihr gekommen seid. Hochwürden konnte ich das nicht anvertrauen. Sanja hat auch sie in ihren Bann gezogen und sich gewogen gemacht. Das hat sie mit vielen Leuten getan. Man darf nicht glauben, wenn jemand gut über sie spricht. Sie war nicht gut, wenn auch nicht schlecht, ganz sicher jedoch war sie nicht gut. Und dennoch bereue ich, dass ich ihr nicht zumindest zugehört habe, schließlich war sie meine Schwester.“ Sie seufzte. „Doch nun... nun bin ich müde, Schwester Marbolieb, todmüde. Würdet Ihr noch ein wenig an meinem Bett sitzen bleiben?“

„Ja“, erwiderte die Novizin tonlos und in Gedanken ganz weit weg, „Natürlich.“

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In dieser Nacht starb Palina von Pul. Marbolieb war an ihrer Seite, als sie ihren letzten Atemzug tat. Am frühen Morgen stand dann Hochwürden vor der Tür und Líadáin musste nicht nur die Tränen der Hinterbliebenen trocknen, sondern auch die der Novizin, obgleich die kein einziges Wort über das verlor, was die Kranke ihr vor ihrem Tod gebeichtet hatte. Und sie versprach ihrer Novizin, sie zum Grab ihrer Mutter zu führen.