Die Sage vom Goldvogel

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Ausgabe Nummer 30 - Efferd 1024 BF

Aus Koscher Sagenwelt: Die Sage vom Goldvogel

Wie man sie in Wengenholm erzählt. Niedergeschrieben und erkläret von Wolfhardt von der Wiesen.

Im Koscherland herrschte einst ein König, der hatte dem bösen Drachen1 seine Reichtümer entrissen und den Thron bestiegen. Doch er lebte in beständiger Sorge, daß die Macht und die Reichtümer mit seinem Tode wieder an den Drachen fallen würden. Denn er hatte keine Kinder und Erben, die das Land beschützen könnten. Und da sein Bart sich schon weiß wie der Schnee auf dem Greifenpaß zu färben begann, beschloß er, einen guten und tüchtigen Nachfolger zu suchen, der nach ihm die Herrschaft übernehmen könne. Weil er aber keinem anderen Menschen traute, ging er in den düsteren Forst zu einem der Waldbrüder2 und sprach: „Weiser des Waldes, du hast viel gesehen und erlebt. Ich bin auf der Suche nach einem würdigen Nachfolger für meinen Thron. Wie aber soll ich den rechten erkennen?“

Da sprach der Waldbruder: „Ich weiß von einem Wundervogel, der hat ein goldenes Gefieder, weshalb man ihn den Goldvogel3 nennt. Einst lebte er in Tsas Garten im Herzen von Alveran. Doch dann aß er die Reste des Göttermahls, das alleine den Zwölfen vorbehalten ist, und seitdem kann er den Menschen in die Herzen blicken. Der wird dein rechter Berater sein und dir helfen, einen Nachfolger zu finden. Mache dich auf, Goldvogel zu suchen.“

Da staunte der König und fragte: „Wo finde ich das Wundertier?“ Und der Waldbruder antwortete ihm: „Er lebt im fernen Tulamidenland4 auf einem hohen Berge in einem goldenen Neste. Du mußt den Ruhigen Strom im Süden überqueren und das Rückgrat der Welt. Dahinter liegt die Große Ödnis, in deren Mitten sich der Berg des Goldvogels erhebt. Nimm dich aber in Acht vor den grimmigen Völkern, die dieses Land durchstreifen.“

Da rief der Herrscher seine Ritter beisammen und sandte sie aus, ihm den Goldvogel zu bringen. Und so zogen sie am andern Morgen aus und kamen nach vielen Monaten Reise in das Tulamidenland. Große Gefahren lauerten auf seinem Wege, und viele Geschichten erzählt man von den Taten der Helden. Doch schließlich sahen sie in der Ferne einen Berg aufragen, und der war der höchste, den sie je gesehen hatten, höher noch als die windumtosten Gipfel des Kosch. Da jauchzten sie vor Freude und sagten zueinander: „Seht her, dies ist der Berg, auf dem Goldvogel lebt. Wir wollen ihn besteigen und das Wundertier mit uns nehmen.“

Und wie sie den Gipfel erklommen hatten, da sahen sie auf dem höchsten Felsen ein Nest, und das war aus feinsten Fäden gesponnen, die glänzten in hellem Golde. Und in dem Neste saß Goldvogel und schlief. Da packten sie das Tier und steckten es in einen Sack und kehrten nach Hause zurück. Dort brachten sie den Goldvogel vor ihren König, und dieser sprach: „Goldvogel, du bist nun mein und sollst mein erster Ratgeber sein. Willst du mir dienen?“ Da antwortete der Goldvogel: „Ja, König, das will ich.“ Und er leistete ihm den Lehnseid und bekam eine goldene Kette um den Hals.

Seitdem saß der Goldvogel auf einer Stange neben dem Throne, und wann immer Bittsteller und Gesandte kamen, da blickte er ihnen direkt ins Herz und erkannte ihre tiefsten Wünsche und Gedanken, denn er hatte ja vom Mahle der Götter gegessen. Und alles teilte er dem Könige mit, so daß dieser stets die richtige Entscheidung traf.

Da nun aber der König sein Ende nahen fühlte, wollte er einen Nachfolger in seinem Amte finden. Und so sprach er zu seinem gefiederten Berater: „Goldvogel, Goldvogel mein. Wozu willst du mir raten?“ Und Goldvogel antwortete: „Mein König, mein König. Laß alle Edelinge und Recken kommen, ich will den rechten schon erkiesen.“

Da berief der König alle Edelinge und Recken in den großen Thronsaal und hieß sie vortreten. Der erste war von großer Schönheit und Anmut, und er gefiel dem König sehr. Aber Goldvogel blickte ihm ins Herz und sagte: „Mein König, mein König. Dieser ist nicht der rechte, denn er denkt nur an sich selbst und wird einzig zu seinem Vorteil regieren.“ Da schickte ihn der König fort. Ein zweiter kam, und der war ein stattlicher und starker Ritter. Aber Goldvogel blickte ihm ins Herz und sagte: „Mein König, mein König. Dieser ist auch nicht der rechte, denn er ist grausam und liebt nur den Zwist und Hader, den Frieden aber will er nicht bewahren.“ Da schickte auch ihn der König fort. Noch viele kamen, doch an allen erkannte der Goldvogel, der es nur gut meinte, einen Makel.

Es geschah aber, daß ein junger Bursche den Recken bei Tisch aufwartete und ihre Klagen vernahm, wie das Wundertier alle ihre Geheimnisse ergründet hätte. Und weil er gewitzt und ein Boltansspieler nach Phexens Art war, beschloß er bei sich, die Königskrone zu erringen. So kaufte er sich heimlich von seinen ersparten Nickeln ein gutes Wams und erbat sich von einem zwergischen5 Goldschmied einen blanken Spiegel. Anderntags mischte er sich unter die Edlen und trat auch vor den Thron des Königs.

Und als Goldvogel ihm ins Herz blicken wollte, da hielt der Bursche ihm keck den glänzenden Spiegel vor, so daß Goldvogel sich selbst in sein eigenes Herz sah. Da sang er: „Mein König, mein König! Dieser hier hat ein Herz aus Gold und ist dein treuester Diener. Er ist dir so ergeben, wie ich es bin. Gib diesem hier Krone, Schwert und Ring.“

Da wunderte sich der König sehr, doch glaubte er dem Rate Goldvogels. Und so nahm er den Burschen als Prinzen auf und weihte ihn in alle Geheimnisse seiner Herrschaft ein. Und nach dem Tode des Königs regierte dieser lange und weise, und das Volk gab ihm den Namen König Goldherz6.

1 – Dies mag der Lindwurm Greing gewesen sein; der entrissene Drachenhort ist ein häufiges Motiv in zwergischen Legenden.

2 – Sicherlich ein Geode.

3 – Der Paradiesvogel, das heilige Tier des Aves? Oder Praios Greifen der Gerechtigkeit und Weisheit?

4 – In anderen Varianten ist hier vom „Adamantenland“, „Madastan“ (Mhanadistan?) oder dem „Mittagsland“ die Rede, das unter Praios Herrschaft stehen soll (womit auch die Urteilskraft des Goldvogels und natürlich dessen Farbe begründet wird)

5 – Man bemerke, daß Wunderdinge und weise Ratschläge im Koscher Märchen weitaus öfter von Zwergen und nicht etwa Feen, Hexen oder Elfen stammen.

6 – Dieser Ehrenname ist für keinen Fürsten von Kosch belegt; jedoch gab es einmal einen Bergkönig in Koschim, der Gisimur genannt wurde (etwa: einer, dessen Herz so rein ist wie Gold, das bei der Quelle gefunden wird).