Das Koscher Totenbuch – Bolzer Wamsler

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Texte der Hauptreihe:
K2. Einohr
Autor: Geron

Firun 1044, Sindelsaum

Gamsbart Wangenmoos zuckte zusammen und verzog schmerzvoll das Gesicht. Alma, seine Gattin, blickte ihn triumphierend an. „Ich hab es dir doch gesagt. Der Zahn muss raus. Du verziehst ja das Gesicht, als ob du einen Nordmärker zu Besuch hättest.“ Gamsbart versuchte seine entgleisten Gesichtszüge mehr schlecht als recht einzufangen und entgegnete: „Ach was. Da war nur ein kleiner Kiesel im Brot.“

„Ein Kiesel im Brot? Zeig her.“, verlangte Alma

„Weißt du was, ich bin spät dran. Ich muss jetzt los.“, stotterte Gamsbart und verließ hastig das Haus. Sein Zahn schmerzte wirklich ganz schön, aber er würde lieber in den Gratenfelser Schwefelquellen Urlaub machen, als zum Zahnreißer zu gehen.

Auf dem Weg traf er auch schon seine Untergebene, die Dorfbüttelin Ilme Liebanger. Die hatte es heute früh ganz schön eilig und dabei war Meister Muroschs Bäckerei in der andere Richtung gelegen, aber Ilma wollte zu ihm und war ganz außer Atem, als sie bei ihm ankam. „Gamsbart, es ist schon wieder geschehen." Angewidert verzog Ilma das Gesicht und fragte. "Ist das etwa dein Zahn?"

Gamsbart schüttelte energisch seinen Kopf. "Ach was, ich habe vorhin nur etwas Knoblauch gegessen."

Ilma schaute ihn zweifelnd an. Um das Thema zu wechseln, erkundigte sich Gamsbart: "Warum hattest du es denn gerade so eilig?"

"Ach so. Das hätte ich jetzt fast vergessen. Es hat noch einen Einbruch gegeben. Beim Pfandleiher Garix ist jemand eingestiegen und hat in seinem Laden ein großes Chaos angerichtet.“

Gamsbart runzelte die Stirn. Das war nun schon das dritte Mal diese Woche. Sonst stahl vielleicht ein Durchreisender einen Apfel, aber ansonsten war es hier stets ruhig. War war denn nur los? War es etwa der Trupp Söldner vom Basteybund der hier neulich durchgezogen war?

Aber all das Nachdenken brachte nichts. Stattdessen musste er ermitteln. Das erwartete der Baron schließlich von ihm. Also machte er sich auf zum Laden des Pfandleihers Garix Apfelbach. Der Hügelzwerg mit den salzweißen Haaren wirkte ganz aufgelöst und Gamsbart konnte gut verstehen, woran es lag, sah sein Laden doch aus, als wäre ein betrunkener Ork durchgewütet. Das war auch das komische an der Sache. Wie auch die letzten beiden Male war der Laden verwüstet worden und doch wusste Garix nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, ob etwas fehlte. Die wertvollsten Stücke seines Kuriositätenladens und seine Geldschatulle hatte jedenfalls niemand angerührt.

„Es wirkt alles so wahllos. Fast, als hätte jemand hektisch nach etwas bestimmtem gesucht und an sonst allem kein Interesse gezeigt, selbst wenn es wertvoll war?"

War der Einbrecher also hinter etwas bestimmtem her, oder war es die Tat eines Wüterichs, der an den Ladenbesitzern Rache nehmen wollte?


Den Rest des Tages verbrachte Gamsbart mit der Spurensuche, kam aber nicht so recht weiter. Denn obwohl es Firun war, lag derzeit kein Schnee. Immerhin konnte er sagen, dass die Einbrüche alle nachts vorgefallen waren, auch wenn der ganz genaue Zeitpunkt unklar war. Leider war die Fährte schon kalt, denn Anshold, also der Hund, nicht der Fürst, vermochte keine Spur mehr zu erschnüffeln. Gamsbart machte sich stattdessen gegen Abend auf den Weg zu Eckbart Wamsler, mittlerweile war der sicher wach und vielleicht war dem Nachtwächter ja etwas aufgefallen.

Eckbart saß beim Abendessen, oder war es sein Frühstück, und lud Gamsbart sogleich ein. "Setz dich doch, Gamsbart. Hast du Hunger?" Gamsbart knurrte tatsächlich der Magen und so bejahte er, setzte sich neben Eckbart und schmierte sich eine Scheibe Brot mit Honig. "Was treibt dich hier her?", fragte der Nachtwächter. Gamsbart öffnete den Mund um von den Einbrüchen zu erzählen, doch soweit kam er nicht, denn Eckbart verzog sogleich angewidert das Gesicht. "Da riecht aber was ganz übel, Gamsbart. Du solltest schleunigst danach sehen."

Gamsbart wollte abwinken und eine Ausrede bringen, doch er hatte es selbst gerochen. Vielleicht musste er wirklich zum Zahnreißer, aber das hatte Zeit. Die Einbruchsreihe musste zuerst aufgeklärt werden. Schnell hatte er Eckbart auf den neuesten Stand gebracht.

Eckbart überlegte. "Gesehen habe ich niemanden, aber gehört habe ich schon etwas. Ich hatte erst gedacht, dass Reto der Dachs seine Runden dreht, aber bis Hügelsaum geht der normalerweise nicht, das muss also unser Einbrecher gewesen sein. Wenn es dunkel wird, können wir zu der Stelle gehen und sehen, ob wir etwas herausfinden können."

So machten sie es dann auch und so zogen die beiden Büttel des Nachts ganz ohne Laterne los, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. An der Stelle, an der Eckbart letzte Nacht etwas gehört hatte, war es ganz ruhig und auch nach längerem Warten in der Kälte tat sich nichts. Schließlich gaben die beiden Männer auf und drehten gemeinsam ein paar Runden der beiden Dörfer. Bei ihrer dritten Runde hörten sie schließlich einen gewaltigen Radau. Das musste der Einbrecher sein. Die beiden Männer rannten los und kamen an der Werkstatt des Binsbart Hacklers an. Die Tür war aufgebrochen worden und innen waren Kampfgeräusche zu hören. Gamsbart zog seinen Knüppel aus dem Gürtel, zögerte nicht lange und stürmte in die Werkstatt. Innen bot sich ihm ein ungewohntes Bild. Der Tischlermeister Binsbart versuchte sich im Schein einer Laterne, mit einem Holzscheit bewaffnet und nur mit seinem Nachtgewand bekleidet, gegen einen Greisen zu verteidigen. Der Greis war Bolzer Wamsler, der angeblich alterslose Dorfälteste. Bolzer schlug mit einem Stock nach Binsbart und beschimpfte ihn so sehr, dass selbst ein Garether Rollkutscher rote Ohren bekommen hätte.

Während sich Binsbart gegen die Hiebe verteidigte, wussten Gamsbart und Eckbart nicht so recht, was sie mit dem rasenden Greis machen sollten. Ihre Rufe ignorierte er jedenfalls, drum tat Gamsbart etwas, worauf er sicher nicht stolz war und sprang den alten Mann von hinten an und riss ihn zu Boden. Binsbart und Eckbart entwaffneten den überraschten Greis. Der gab zwar das Kämpfen auf, bezichtige Binsbart Hackler aber, ihn angegriffen zu haben und ausrauben zu wollen und ganz im Allgemeinen ein schlechter Mensch zu sein, war er doch mitten in der Nacht in sein Haus eingebrochen, so Bolzer.

Dass sie eigentlich in Binsbarts Haus waren und dass er der Einbrecher war, wollte Bolzer nicht glauben und bezichtige Eckbart und Gamsbart stattdessen, mit dem finsteren Schurken unter einer Decke zu stecken.

Es half alles nicht. Die drei Männer brachten Bolzer schließlich nach Hause, wo er sich nach ein paar Schlucken Hügelbräu tatsächlich ins Bett begab und einschlief. Binsbart und Gamsbart gingen daher ebenfalls heim, um wenigstens ein paar Stunden Schlaf nachzuholen. Eckbart würde derweil bei dem verwirrten Greis Wache halten.


Am nächsten Tag fühlte Gamsbart sich wie gerädert. Sein Zahn tat ihm heute höllisch weh und sämtliche Knochen taten ihm ebenfalls weh. Während seines unruhigen Schlafes hatte er geträumt, dass er von wütenden Greisen in die Sindel gejagt worden war.

So brachte er beim Frühstück fast kein Wort heraus und aß seinen Haferschleim eher lustlos. Alma gab den Versuch, ein Gespräch in die Gänge zu bringen, rasch auf.

Nach dem Frühstück schlurfte Gamsbart zum Dachsbau, um Bericht zu erstatten. Zum ersten Mal in seinem Leben schlug er dort ein zweites Frühstück aus. Baroscha, die Köchin des Barons, ließ er sprachlos zurück, als er in die Arbeitsstube des Barons eintrat.

Baron Erlan von Sindelsaum sah gerade einige Papiere durch, während er gleichzeitig eine Scheibe Nussbrot aß. Als Gamsbart eintrat, sah er auf. "Ah, Gamsbart, schön dich zu sehen. Setzt dich doch erst einmal, du siehst ja ganz blass aus."

Gamsbart ließ sich in einen Stuhl fallen und der Baron fuhr fort. "Gibt es in der Einbruchssache etwas Neues?"

Gamsbart nickte. "Es scheint, als ob Bolzer Wamsler die Einbrüche begangen hat. Er scheint reichlich verwirrt zu sein. Gestern Nacht ist er bei Binsbart Hackler eingestiegen und hat Binsbart sogar mit einem Holzscheit angegriffen. Bolzer war der Meinung, dass Binsbart in sein Haus eingebrochen war und nicht andersherum. Eckbart und ich konnten ihn nicht eines anderen überzeugen und mussten ihn schließlich überwältigen. Letztlich haben wir es geschafft, ihn heimzubringen, aber selbst als er eingeschlafen ist, war er immer noch der Meinung, dass ihn eine Bande Schurken gefangen hält."

Erlan hatte aufmerksam zugehört und antwortete: "Den guten Bolzer hat sein Alter wohl langsam eingeholt. Wir werden ihn erst einmal bewachen müssen, damit er keine weiteren Schäden anrichtet. In der Zwischenzeit schicke ich einen Reiter zum Neuen Borontempel in Angbar und werde dort um Rat bitten."

So geschah es und die Sindelsaumer hielten tagein, tagaus Wacht über den Greis Bolzer. Tagsüber war er zwar oft etwas verwirrt, aber doch ein recht angenehmer Zeitgenosse. Des Nachts aber verwandelte er sich immer wieder in einen rasenden Wüterich. Marbold Eschengrunder, einer der Waffenknechte des Barons, trug gar einige blaue Flecken davon.

Ein paar Tage später traf Boronelda Wandelgast, die Hochgeweihte des Borons aus Angbar ein und suchte das Gespräch mit Bolzer. Ihr Urteil bestätigte, was sie alle befürchtet hatten. "Bolzer ist bei den Noioniten am besten aufgehoben.", erklärte Boronelda knapp und machte sich auf den Weg zurück nach Angbar.

Gamsbart und Baron Erlan saßen diesen Abend zusammen und schwiegen sich an. Ab und an nippte einer der beiden an einem Hügelbräu, doch ein Gespräch kam nicht in den Gang. Die beiden Männer hingen ihren Gedanken nach, doch es half nichts. Bolzer konnte hier nicht ewig bewacht werden, die Noioniten kannten sich hingegen mit Seelenheilkunde aus, bei ihnen würde es Bolzer sicher besser gehen, auch wenn es im düsteren Garrensand war.


Zwei Tage später machte sich die Kutsche des Barons von Sindelsaums auf den langen Weg nach Garrensand. An Bord war der verwirrte Greis Bolzer Wamsler sowie der Dorfwaibel Gamsbart und der Nachtwächter Eckbart, ein entfernter Verwandter von Bolzer. Die Reise verlief recht ereignislos, bis die Gruppe den Ort Colena erreichte und im Sonnenwirt Gastung erhielt. Hier hellte sich die Stimmung des greisen Bolzers sichtlich auf, ebenso wirkte er weniger verwirrt. Stattdessen schlenderte er des Abends trotz der Kälte mit Eckbart durch die Gassen des kleinen Ortes.

"Weißt du, Eckbart, ich war hier Mal als junger Mann und habe hier einen schönen Sommer verbracht. Hier noch einmal durchzukommen hat mich direkt wieder in meine Jugend zurückgebracht. Es scheint mir fast, als könnte ich die Blumen im Haar der schönen Mädchen riechen, und das, obwohl es tiefster Winter ist." Eckbart hörte Bolzer aufmerksam zu.

"Die letzten Wochen und Monate ist mein Geist oft wie umnebelt. Vielleicht bin ich bei den Noioniten also wirklich am besten aufgehoben." Bolzer wirkte nun traurig, der Glanz war aus seinen Augen gewichen. Eckbart wusste nicht, was er sagen sollte, er war schlicht und einfach sprachlos, hatte doch niemand mit Bolzer besprochen, wohin ihre Reise führen sollte.

In betroffenem Schweigen machten sich die beiden Männer auf den Rückweg zur Herberge.

Eckbart konnte die Nacht über nicht schlafen. Taten sie hier das richtige, oder war Bolzer gar nicht so verwirrt, wie sie alle gedacht hatten? Irgendwann fiel er dennoch in einen ruhelosen Schlaf. Am Morgen fühlte er sich, als hätte er auf einem Bett aus Wackersteinen geschlafen, doch als er kurz darauf Gamsbart sah, wurde es nicht viel besser, denn der Dorfwaibel war leichenblass und flüsterte: "Bolzer ist heute früh nicht aufgewacht. Golgari hat ihn letzte Nacht geholt."

So endete ihre Reise in Colena und Bolzer wurde am Ort seiner Jugenderinnerungen bestattet, anstatt seine letzten Tage in Garrensand zu verbringen.

So schloss sich eine weitere Seite im Koscher Totenbuch.