Überraschender Besuch
Schloss Grauensee, früher Nachmittag im Peraine 1036 BF
Wilbur vom See stand am Fenster der Galerie vor seinem Arbeitszimmer und starrte in den Hof von Schloss Grauensee. Es war ein warmer Frühlingstag. Außer einer Katze, die faul ihren Bauch der Sonne entgegenstreckte, war niemand zu sehen. Katze müsste man sein, dachte Wilbur melancholisch. Außer Mausen gibts nichts zu tun, und leckere Mäuse gibts immer genug. Das Kätzchen seiner Schwester Niope kam ihm in den Sinn. Ein besseres Leben als «Wollknäuel» hatte niemand auf Burg Ibeck geführt ...
Plötzlich sprang die Katze im Hof erschreckt auf, machte einen Buckel und rannte davon, verschwand in einem Kellerfenster. Dann hastete eine Wache in den Ausschnitt des Hofes, den Wilbur durch das Fenster sehen konnte, eine der beiden Torwachen. Ihr folgten zwei Reiter, ein älterer Mann und eine junge Frau, beide edel gekleidet. Der Mann bellte der Wache ein bissiges «Na los, los!» hinterher, das Gesicht zu einer Maske der Verachtung verzogen. Die Frau lenkte ihr Pferd zur Stelle, wo die Katze verschwunden war, dann zum Brunnen mit der Statue von Jagdmeister Jörch, die sie interessiert musterte. Sie war blond, kräftig und strahlte Selbstbewusstsein aus. Augen und Nase verrieten, dass sie mit dem Mann verwandt sein musste, doch fehlten ihrem Gesicht die Arroganz, welche dem Mann die dunklen, scharfen Brauen verliehen, und der grausame Zug um die Lippen. Irgendwie kam sie Wilbur bekannt vor ...
Er schrak aus seinen Gedanken hoch. Das konnte nicht wahr sein! Das Bild seiner Verlobten, das Onkel Bork aus dem Weidenschen mitgebracht hatte! Dann war der Mann sein baldiger Schwiegervater, der Graf der Sichelwacht. Aber was taten sie hier? Sie wurden erst in einer Woche erwartet.
Die Torwache stürzte in die Galerie, verbeugte sich hastig vor Wilbur und stammelte: «Hochwohlgeboren, ich melde die Ankunft Graf Bunzengolds nebst Tochter Ger... Ger...» «Gertraut!», rief Wilbur. «Ich habs gesehen! Ich komme sofort!»
Mit zitternder Hand stieß Wilbur die Türe zum Schlosshof auf. Gertraut und ihr Vater schon hier, unangekündigt! Hesinde, was konnte das bedeuten? Oder wusste Voltan davon? Voltan, er brauchte Voltan, sofort! Wilbur zwang sich ein Lächeln auf, als er in den Hof trat.
Die beiden Weidener Besucher waren bereits abgesessen, Graf Bunsenhold hatte einen Stallburschen herbeigewinkt und gab ihm gellende Befehle. Wilbur eilte dazu. «Graf Bunsenhold», rief er, die Stimme stockend, «teuerste Getraut! Ihr solltet doch noch gar nicht ... ich meine wir haben Euch ... Willkommen auf Grauensee!»
Bunsenhold sprach für quälende Augenblicke ungerührt weiter mit dem Stallburschen, während seine Tochter Wilbur schweigend musterte. Dann drehte er sich um, und Wilbur wäre am liebsten im Kopfsteinpflaster des Schlosshofes versunken unter diesem schneidend kalten Blick. «Ah», sagte Bunsenhold endlich. «Ihr seid der strahlende Sieger von Trolleck. Mein baldiger Schwiegersohn. Nun, meine Tochter und ich hatten genug von den lästigen Aufwartungen der Angbarer Pfeffersäcke und entschieden, uns stattdessen schon einmal ein Bild ihres künftigen Heims zu machen.» Er liess den Blick über den Hof schweifen. «Ganz hübsch hier. Wo sind unsere Gemächer?»
Eine neue, sonore Stimme antwortete: «Die Gästezimmer sind im Südflügel.» Voltan von Falkenhag war unbemerkt hinzugetreten. «Leider sind sie noch belegt durch eine Delegation des Hesindetempels von Salmingen.» Bunsenhold schnaubte. «Dann seht zu, dass Ihr sie loswerdet, Meister ... wer wart Ihr nochmal?»
Wilbur, dem weder die Aggression in Bunsenholds Stimme noch die plötzliche Zornesfalte zwischen Voltans Brauen entgangen war, warf sich dazwischen: «Voltan von Falkenhag, mein Hofmagus und Truchsess.» «Der Bruder des Reichsverräters Orsino? Nun ja, für seine Familie kann keiner was. Jedenfalls für die angeborene.» Wieder ließ er diesen schrecklichen Blick von Kopf bis Fuß über Wilbur gleiten, doch diesmal riss sich der junge Graf zusammen. «Voltan, bitte redet mit den Salmingern. Sicher finden wir eine passende Unterkunft für sie in der Nähe. Gertraut, Vater – wenn ich darf? - folgt mir in den Großen Saal. Ich werde eine Stärkung auftragen lassen.»
Später saßen Wilbur und Voltan im Lesezimmer des Grafen. Die Hesindianer hatten sich einsichtig gezeigt und das Schloss verlassen, Gertraut und ihr Vater machten es sich im Gästeflügel gemütlich.
«Ihr Götter!», rief Wilbur, «kein Wort von dem, was Großvaters Werber über Graf Bunsenhold berichtet haben, war übertrieben! Und doch konnte mich nichts vorbereiten auf das, was heute passiert ist.»
«Nur nicht bange machen lassen», warf Voltan ein. «Zweifellos wollte der Graf dich überrumpeln, um sich ein besseres Bild von seinem Schwiegersohn zu machen.»
«Das ist ihm auch bestens gelungen, aber was für ein Bild hat er dabei erhalten?» Verzweiflung schwang in Wilburs Stimme.
«Du hast dich gar nicht so schlecht gehalten», sagte Voltan mit einem leisen Lächeln. «Dieser Bunsenhold ist, mit Verlaub, ein Drecksack, aber ihn wirst du auch nicht heiraten. Spätestens Anfang Rahja reitet er zurück nach Weiden. Und die Jungfer Gertraut hat immerhin kein einziges böses Wort fallen lassen ...»
Wilbur seufzte. «Dein Optimismus in der Götter Ohr, Voltan. Ich habe jedenfalls ein ganz schlechtes Gefühl. Das war kein gutes Omen für einen Traviabund ...»