Dohlenfelder Thronfolgestreit - Ein blutiges Phexensspiel I
Teil der Briefspielgeschichte "Dohlenfelder Thronfolgestreit"
Der Sommer in Wichtenfels III | Ein blutiges Phexensspiel II |
Twergenhausen, am Abend des 28. Praios
Den ganzen Tag hatten Baronin Odrud von Gernebruch zum Gernebruch und Lindos von Lilienthal mit ihren Handlangern im vom Haus Engstrand zur Verfügung gestellten Haus verbracht. In den letzen Tagen hatte man alle verfügbaren Informationen zusammengetragen um zu wissen wie der Bürgermeister seine Zeit verbrachte. Zum Vorteil der Entführer hatte er einen sehr geregelten Tagesablauf. Zum Nachteil war er aber beinahe nie alleine und zudem stets von einer Leibwache beschützt. Man sprach wieder und wieder die geplante Entführungaktion durch, beugte sich dabei über einen skizzierten Stadtplan, in dem alle relevanten Örtlichkeiten eingezeichnet waren. Man hatte mehrere Optionen – wenn jedoch die erste Variante scheitern würde, wäre jede weitere ungleich schwerer.
So verstrich der Tag, doch eine außerordentliche Unruhe schien über der Herzogenstadt zu liegen, die nichts mit dem unwichtigen Feiertag der Rüstungsbauer, der an diesem Tag begangen wurde, zu tun hatte. Baronin Odrud unternahm nur noch einmal am Mittag einen Rundgang, um sicherzugehen, dass die anberaumte Ratssitzung auch stattfand. Sie unterhielt sich mit nur möglichst wenigen Leuten, versuchte nicht aufzufallen. Und doch kam sie sich beobachtet vor, einmal, für einen kurzen Augenblick, ganz in der Nähe des Rathauses.
Die Ratssitzung sollte stattfinden, das war bald sicher – und ebenso so sicher war nun die Ursache der eigenartigen, aufgewühlten Stimmung in der Stadt: Es gingen Gerüchte um, dass eine Söldnerarmee aus dem Süden gekommen war und Burg Schwarzfels – die seit einem halben Jahr Twergenhausen gehörte – eingenommen hatte. Am Vormittag war, wenn man dem Gerede glauben schenken konnte, ein Flussgardist, der auf der Schwarzfels stationiert gewesen war, in Twregenhausen angekommen. Es gingen Gerüchte von Magiern um, von hunderten Söldlingen, einem Großangriff Angronds – aber auch, dass die Söldlinge in heimlichen Diensten Hagens stünden. Bürgermeister Gliependiek hatte sofort die Tagungsordnung der Ratssitzung geändert und die Geschehnisse um die Burg am Darlin zum einzigen Tagungsordnungspunkt gemacht, die eigentlich angesetzte Debatte um Reparaturarbeiten an den Hafenkränen und eine weitere Zollerleichterung für Grangorschen Stockfisch musste warten.
So blieb Odrud nichts als zu hoffen, dass die Ratsherren nach der Ratssitzung wie üblich in der Rohalskappe einkehren würden. Was in Schwarzfels geschehen war, und mit welchen Konsequenzen für Lindos und sie, das spielte vorerst keine Rolle. Obwohl es gut sein könnte, dass schon am nächsten Tag die Stadtwehr den Darlin entlang ziehen würde. Die Zünfte ließen bereits ihre Bewaffneten mustern. Auch, dass sie ganz nebenbei mitbekam, dass das Haus Gliependiek und das Haus Kessler momentan mindestens zweihundert Koscher Söldner, die in Hagens Diensten standen und bei Altengrund lagerten, mit Nachschub versorgten und sich dabei eine goldene Nase verdienten, war nun nicht relevant. Die Entführung musste fokussiert werden!
So kam der Abend. Die Aufregung im Quartier der Verschwörer wuchs ins Unermessliche – würden sie auch nur bei einem Entführungsversuch eines Bürgermeisters einer Herzogenstadt erwischt werden, das könnte je nach Stand Strick oder Galgen bedeuten. Selbst im Erfolgsfall war es wichtig, dass Gliependiek niemals erfahren würde, wer hinter der Aktion steckte.
So begaben sich Odrud, Lindos und ihre Begleiter nach Einbruch der Dunkelheit in den Hurenhof und bezogen ein vorläufiges Quartier im leerstehenden Ratsbordell. Es hatte ansonsten nicht gut begonnen, denn ein Kontakt zu den Engstrands war aufgrund der sich überstürzenden Geschehnisse um den Fall der Burg Schwarzfels nicht möglich. So musste man hoffen, dass man Perval Gliependiek auch ohne weitere Hilfe entführen konnte.
Der Mann, der im Hurenhof unauffällig spähte und lauschte, musste zwei-, dreimal Deckung nehmen, als ein Nachtwächter in den Hof leuchtete. Auch die Idee, Straßenkinder anzuheuern, wurde rasch aufgegeben – auf dem Hilberiansplatz sorgten während des Gelages des Magistrats zwei Stadtgardisten für Ruhe und Ordnung. Doch dann spielte das Glück oder auch die drückende Sommernachtshitze den Entführern in die Hand: Ein Schankmädchen öffnete die Hintertür des Ratskellers, offensichtlich um für ein wenig Belüftung zu sorgen.
Nun konnte der Späher in den von zwei Öllampen beleuchteten Gang hineinschauen. Dieser knickte ab, und erst dort lag die Tür zur Wirtsstube. Es verging eine gefühlte Ewigkeit. Lindos durchsuchte zweimal im Dunkeln das ganze ehemalige Ratsbordell, weil er ständig das Gefühl hatte, das irgendetwas nicht stimmte. Vielleicht war es auch nur die verdammte Dunkelheit. Doch Licht anzuzünden hätte die Entführer verraten.
Plötzlich klopfte der Späher, wie vereinbart, dreimal kräftig an die Tür des Ratsbordells. Odrud, Lindos und die drei weiteren Entführer eilten wie vereinbart heraus, Lindos vorweg. Im Gang konnte man durch die offenen Hintertür den kräftigen Leibwächter Gliependieks an die Wand gelehnt sehen, bewaffnet war er mit einem Schwert. Der Lärm in der Gaststube musste selbst lautere Kampfgeräusche übertönen. Lindos stürmte mit einem Säbel in der Hand in den Gang, hinter ihm ein Kämpfer mit dem Spieß, danach die anderen. Dem Leibwächter gelang es noch den ersten Streich zu parieren – dann durchbohrte der Spieß die Brust des Leibwächters und nagelte diesen an die Wand des Ganges. Der ehemalige Flussgardist starrte auf seine Verletzung herab, Blut quoll aus seinem Mund.
Währenddessen hatte der mit dem Knüppel bewaffnete Kämpfer die Tür zum Abort aufgetreten und Gliependiek, bevor dieser auch nur einen Ton von sich geben konnte, niedergeschlagen. Der Kämpfer und Odrud schleiften den bewusstlosen Gliependiek aus dem Gang, während der Leibwächter mit leeren Augen dem Szenario zusah und schließlich sein Leben aushauchte.
Lindos verrammelte den Hinterausgang der Rohalskappe, während Odrud und einer ihrer Leute Gliependiek fesselten, knebelten und ihm eine Kapuze überstülpten. Noch immer schien niemand in der Ratsschänke etwas bemerkt zu haben, aber die ganze Aktion hatte auch nur Augenblicke gedauert.
Plötzlich aber! Fackelschein von schräg oben, aus einem Fenster neben dem ehemaligen Ratsfreudenhaus, erhellte auf einmal die Szenerie auf unheimliche Weise. Dann flog die Fackel nach unten, landete funkenstiebend direkt neben Lindos auf dem Boden, blendete alle Umherstehenden und -knienden. Im gleichen Moment hörte man das Sirren eines Geschosses, und der Kämpfer, der eben noch an Odruds Seite Gliependiek die Kapuze übergestülpt hatte, sank mit schmerzverzerrtem Gesicht in sich zusammen. Odrud sah einen Armbrustbolzen aus seinem Rücken ragen, der Schuss war aus dem Fenster abgeschossen worden, aus dem die Fackel geworfen worden war – und hätte auch ihr gelten können.
Während der sofort kampfbereite Lindos seinen Säbel zog und zu erkennen versuchte, was der Schütze nun tat, die drei noch unverwundeten kampferprobten Begleiter Odruds überlegten, wo Deckung zu finden sei, mühte sich Odrud noch, wenigstens einen rudimentären Überblick zu gewinnen. In diesem Moment des Durcheinanders stürmten vier oder auch mehr Bewaffnete von der Herzogenpromenade kommend in den Hurenhof. Lindos sah Schwerter und lange Dolche, von oben, vom Platz des feigen Schützen, hörte man eine schneidende Stimme laut rufen: „Macht die Mistkerle nieder, rettet den alten Pfeffersack!“
Wer waren diese Angreifer? Sicherlich keine Stadtgardisten oder Kämpfer der Stadtwehr oder Leute in Diensten Gliependieks, dazu passte weder das Vorgehen noch der Tonfall. Doch vorerst wusste Lindos, dass es wichtigeres zu tun gab: Er half der jungen Baronin Odrud mit seiner Linken recht unsanft auf die Beine, und befahl mit scharfem Ton den zwei ihm am nächsten stehenden Bewaffneten: „Mit mir! Den Rückzug sichern! Raus aus dem Licht!“ Als die Baronin wieder stand, packte diese Gliependiek mit dem dritten Kämpfer den bewusstlosen Gliependiek und schleppten den schweren Mann in Richtung Richtplatz – welch Ironie, dachte sich da Odrud, wenn sie festgenommen würden, würden sie womöglich genau dort enden...
Als die von der Herzogenpromenade kommenden Angreifer heran waren, es waren nicht, wie nach Lindos erster Einschätzung, vier sondern sogar sechs Kämpfer, hatte Odrud gerade das im Dunkeln liegende Haus der Katzengilde passiert. Der kräftige, großgebaute Lindos blieb mit gezogenem Säbel stehen, wartete, bis die Gegner in Reichweite waren, und machte dann eine draufgängerischen Ausfall nach vorne, wobei der erste Angreifer, der gerade mit seinem Dolch zustechen wollte, zu Boden ging und die drei anderen einen Augenblick innehielten. Lindos nutzte diesen Moment, um einen der Unbekannten mit einem Streich seines Säbels niederzustrecken. Dann wurde er von zwei Gegnern attackiert, die mit wütenden Schwerthieben auf Lindos losgingen, der sich nur mühselig verteidigen konnte. Es war jedoch so eng, dass nur die beiden ihn attackieren konnten und er zudem kein Ziel für den Armbrustschützen bot – andererseits konnten ihn auch seine beiden Kampfgefährten kaum unterstützen.
Odrud und ihr Helfer schleppten schwer am gefesselten, ohnmächtigen Gliependiek und waren derweil auf dem Richtplatz angelangt, der im fahlen Mondlicht lag. Richtig finster war es nur entlang der alten Stadtmauer, daher wählte die Baronin diesen Weg. Schritt für Schritt schleppten die beiden Entführer den Bürgermeister die Mauer entlang, immer auf den Schuldturm und die Hauptwache der Stadtwache zu.
Wohl war Odrud nicht bei der Aussicht, den Stadtgardisten quasi direkt in die Arme zu laufen. Aber andererseits wusste sie, dass die Nachtschicht nur aus vier Stadtgardisten bestand, von denen zwei momentan noch vor dem Ratskeller auf dem Hilberiansplatz Wache hielten. Es hielten sich also maximal zwei Mann in der Hauptwache auf. Aber wo waren die acht Nachtwächter, die von den Zünften gestellt wurden? Die Nachtwächter waren mit Hellebarden bewaffnet und verstanden – aufgrund der wöchentlichen Stadtwehrübungen – wohl damit umzugehen.
Lindos musste hingegen nicht lange darüber nachdenken, wo die Spießbürger steckten, die diese Nacht als Nachtwächter eingeteilt waren. Denn vier Hellbardiere, einer davon hatte seine Laterne noch nicht fallenlassen, stürmten, von der Herzogenpromenade kommend, von hinten und mit Gebrüll auf seine ebenso noch vier Kämpfer zählenden Gegner zu, deren Identität ihm immer noch ein Rätsel war. Ein fünfter Nachtwächter hatte den Armbrustschützen, der am Fenster gesehen und gerade die Haustür eingetreten, um diesen zu stellen. Die Nachtwächter riefen: „Im Namen des Magistrats, die Waffen nieder!“
Die Gegner von Lindos und seinen Kampfgefährten schauten sich verdutzt ihm, bemerkten ihre äußerst brenzlige Lage und blieben wie versteinert stehen. Einer der Nachtwächter, eine kräftige Maurergesellin, der zuerst heran war, stieß einem der Schwertkämpfer den Stiel seiner Hellebarde mit aller Wucht in die Nieren, dem Mann schwand sofort das Bewusstsein und er stürzte schwer. Die anderen schrien wild durcheinander „Die haben den Gliependiek entführt!“, „Wir sind auf Eurer Seite!“, „Dort sind die Schurken!“ – während die Nachtwächter „Waffen nieder!“, „Auf den Boden!“ und „Widerstand ist zwecklos!“ brüllten.
Lindos, der eine klaffende Wunde am linken Oberarm davongetragen hatte, und seine zwei Kampfgefährten hatten in dem Chaos nur wenige Augenblicke zum Überlegen. Der Ritter warf einen blitzschnellen Blick über die Schulter. Odrud war nicht mehr zu sehen – er mutmaßte zu Recht, dass die Baronin im finsteren Winkel zwischen Schuldturm und Hauptwache angelangt war.
Der Ritter sah in der überraschenden Situation nur eine Chance: Flucht! Er ließ sofort von seinem Gegner ab, zischte seinen beiden Kampfgefährten nur ein knappes „Weg hier!“ zu. Die drei Kämpfer rannten so schnell sie nur konnten quer über den Richtplatz, knapp am Pranger vorbei und hin zum Schuldturm, wo Lindos die Baronin und Gliependiek vermutete. Der Eingang Schuldturm war zugemauert, der Zugang befand sich vermutlich innerhalb der Hauptwache. Die Baronin wusste vor Aufregung, Angst und Verwirrung kaum, was sie tun sollte, so übernahm Lindos das Kommando: „Du und Du“, flüsterte er zweien der drei verbliebenen Kämpfer zu, „packt Gliependiek!“
Als die kleine Gruppe gerade um die Ecke der Hauptwache lugte, flog die Tür des Gebäudes mit Schwung auf, und ein schläfrig wirkender Stadtgardist stürmte mit gezogenem Schwert heraus, zielstrebig auf den Hurenhof zu. Den fünf Entführern stockte der Atem, dann huschten sie so geduckt sie nur konnten am Eingang der Hauptwache vorbei und in den stockfinsteren Praioswinkel. Das Geschrei aus dem Hurenhof war noch nicht endgültig verklungen, doch schienen nun eindeutig die Nachtwächter die Oberhand zu haben. Lindos schaute sich um, blickte die alte Stadtmauer hinauf – wenn sie doch nur ein Kletterseil hätten! Aber selbst dann wäre es abenteuerlich geworden, den fetten Gliependiek auf den nicht mehr genutzten Wehrgang hinaufzuhieven.
Also ging es ebenerdig weiter, zügig am Zeughaus mit seinem stabilen und mehrfach gesicherten Tor vorbei. Zwischendurch wechselte man sich mit dem Tragen des schwergewichtigen Bürgermeisters der Herzogenstadt ab. Man eilte die Burggasse hinauf, zwischen den kleinen und engen Häuschen dieses ältesten Stadtteiles hindurch, dann die Alte Burggasse wieder herunter auf das alte Stadttor zu. Die Torflügel waren seit Jahren nicht mehr geschlossen worden, die Angeln waren verrostet. Als das Tor durchschritten war, sah man den Mauergarten vor sich, in dem viele Bürger ihre Schrebergärten hatten und ihr eigenes Obst und Gemüse oder Kräuter zogen.
Lindos wäre am liebsten gleich weitergeilt, doch die junge Baronin hielt keuchend inne, lehnte sich an die Außenseite der alten Stadtmauer. Auch Gliependiek wurde kurz abgelegt – als er zum ersten Mal seit Beginn der Entführung einen Schmerzenslaut von sich gab, wurde ihm sogleich der Knüppel ein weiteres Mal über den Schädel gezogen, der Bürgermeister verstummte augenblicklich. Lindos fuhr den Mann, der ohne zu zögern zugeschlagen hatte, flüsterte wütend: „Mistverdammter Trottel, wir brauchen Gliependiek lebendig! Dazu gehört auch, dass er noch sein Hirn im Schädel hat!“ Der Ritter lauschte an Mund und Nase des Bürgermeisters und stellte erleichtert fest, dass der alte Mann noch atmete.
Dann ging es auch schon weiter, es war keine Zeit zu verlieren. Die fünf Entführer trugen ihren Beute geradewegs die neue Stadtmauer entlang. Soeben hörte man die Ratsuhr im sogenannten Spielturm mit zwölf kräftigen Schlägen die Rahjastunde einläuten. Odrud sprach ein kurzes Gebet zu Phex, dass es ihr vergönnt sein möge, lebendig und unentdeckt aus der Stadt zu entkommen. Hätte sie geahnt, was sie hier angestoßen hätte – sie hätte niemals die Entführung vorgeschlagen.
Schließlich sah man das Tor der Gänsezunft vor sich. Im fahlen Licht zweier Laternen saßen die zwei wachenden Stadtwehrkämpfer, ihre Hellebarden an das Torhaus gelehnt, auf niedrigen Hockern sitzen und um ein paar Kreuzer und Heller würfeln. Sie schienen vom Trubel in der Oberstadt bislang nichts mitbekommen zu haben. Lindos winkte der Baronin und dem angeheuerten Kämpfer, der gerade nicht Gliependiek trug, zu und flüsterte: „Das ist unsere Gelegenheit! Sie haben uns nicht bemerkt. Wir schleichen näher, so gut es geht. Sobald sich einer der beiden in unsere Richtung umdreht, rennen wir los und machen sie kampfunfähig. Dann öffnen wir das Mannloch und sind draußen.“ Die Baronin und der Scherge nickten wortlos, die Baronin war froh, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie blass sie war.
Man war auf fünfzehn Schritt heran, da hörte man aus der Oberstadt die Alarmglocke der Stadt schnell und heftig schlagen. Die Entführung war endgültig entdeckt worden – jetzt zählte jeder Augenblick. Lindos rannte sofort los, während die beiden Torwachen aufstand und sich ihren Hellebarden zuwandten. Mit einem weit ausholenden Säbelstreich hieb er dem überraschten Wächter – die noch darüber rätselten, weshalb Alarm gegeben wurde – die Hellebarde aus der Hand und setzte ihm die Klinge auf die Kehle. Doch der zweite Torwächter hatte schneller reagiert, und hatte mit einer tausendmal in den Stadtwehrübungen trainierten Bewegung dem heranstürmenden Schergen die Hellebarde tief in den Bauch gerammt, nur um einen Augenblick später das Schwert der Baronin in seiner Brust zu spüren. So gingen der Bäckersgeselle und der Entführer fast gleichzeitig zu Boron.
Lindos hatte seinen Gegner mit dem Säbelknauf ohnmächtig geschlagen und half der Baronin, die beiden schweren Querbalken, die das Mannloch sicherten, herauszuheben. Odrud war nicht stark genug, und auch Lindos konnte aufgrund seiner Armverletzung nicht richtig anpacken. So mussten die beiden Entführer, die Perval Gliependiek herangetragen hatten, den Bürgermeister unsanf auf das Straßenpflaster abzulegen, um mitanzupacken. Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, gelang es, den zweiten Querbalken, der total verkantet war, herauszustemmen – und während sich Lindos noch über die beiden schweren Vorhängeschlösser fluchte, die die Tür in die Freiheit immer verschlossen, hatte Odrud bereits den Schlüsselbund in der Hand, den sie bei der getöteten Torwache gefunden hatte. Rasch probierte sie einige Schlüssel durch, dann war das Mannloch auf. Gleichzeitig hörte man Alarmrufe vom Kaiser-Sighelm-Platz kommen, dazu Geräusche von beschlagenen Hufen.
Mit großer Erleichterung blickten die nun noch vier übriggebliebenen Entführer in die Bauernstadt außerhalb der Mauer. Kein Mensch war dort zu sehen, auch die Brückenwarte schien unbesetzt. Die beiden Schergen packten erneut Gliependiek, unter seinem Gewicht deutlich stöhnend, Odrud und Lindos folgten den beiden. Vor der Kneipe Ogertod stieß Lindos einen Betrunkenen mit einem brutalen Ellbogenstoß in die Gosse, vor dem Rasthof Brückenwarte ignorierten die vier Leute eine Frage aus der offenen Tür des Rasthofes in der Brückenwarte: „Die Zwölfe zum Gruße, was ist denn da in der Stadt los, zu dieser Stunde?“
Man eilte weiter, blickte sich nicht um. Zur rechten lag der Untere Darlingarten, wo einige ärmere Bürger ihre Gärten hatten – und sich mit dem jährlichen Hochwasser herumschlagen musten. Zur Linken sah man den Ratsanger, auf dem im Schutze der Golgarikapelle die Bürger in schmucken Gräbern und die Patrizier in prächtige Grüften bestattet waren, dahinter lag das Armenfeld, wo die Leichen der Armen verschart wurden.
Von der Stadt kam nun deutlich zu hören Pferdegetrappel, das näher und näher kam. Es waren sechs Reiter, alle hatten Fackeln in den Händen. Lindos konnte die Uniformen der Herzoglichen Flussgarde erahnen. Die Reiter mussten aus der Hafenzitadelle gekommen sein. Und Lindos befürchtete, dass die Reiter sie bereits gesehen hatte – schließlich hatten diese auch schon die Brückenwarte passiert und waren kurz vor dem Ratsanger.
Während Odrud und die beiden anderen Entführer einfach weiterliefen und weiterliefen, suchte Lindos nach einem Ausweg. Die einzige Fluchtmöglichkeit bestand nun darin, am Siechenhaus vorbei in die in Dunkelheit liegende Growinsmark zu laufen. Dies war ohnehin schon sein Plan gewesen, nun war er aber alternativlos. Denn auf dem ersten Teil des Weges, im Brombeer- und Brennnesselgestrüpp des Growinssitzes, konnten die Reiter nicht zu Ross folgen, sie mussten absitzen, damit war ihr Vorteil dahin. Außerdem bot das Unterholz zusammen mit der Dunkelheit eine exzellente Deckung vor eventuellen Armbrustschützen.
Aber der Vorsprung war zu gering! Die geübten Kämpfer in des Herzogs Rock würden die den Bürgermeister tragenden Entführer, die zudem für eine Nacht schon genug gerannt waren und gekämpft hatten, ohne jeden Zweifel in Kürze einholen. Dann wäre alles umsonst gewesen.
Die sechs Flussgardisten mussten zumindest so lange aufgehalten werden, dass der Baronin die Flucht gelänge. Zum ersten Mal verfluchte Lindos den „phexischen Plan“ der Baronin, denn natürlich würde diese Aufgabe ihm zufallen, denn den beiden gedungenen Kämpfern schenkte er kein allzu großes Vertrauen. Es war eben nur übles Pack, dass man für solch zwielichtige Aufgaben anheuern konnte. Das lag in der Sache.
Die Baronin könnte aber mit einem der Schergen den Bürgermeister weitertragen. Er, Lindos, würde mit dem anderen Schergen zurückbleiben und den schmalen Weg zum Darlin hinunterlaufen. Dort würde er dann auffällig-unaufälligen Lärm machen, dass die Flussgardisten ihm folgten. Währenddessen sollte die Baronin und ihr Helfer einfach Ruhe bewahren. Die Flussgardisten müssten einfach glauben, dass die Flüchtigen versuchten, durch den Darlin zu entkommen. So oder so würden sie ihm folgen, und er ihnen einen Kampf liefern, um sie so lange hinzuhalten, bis die Baronin in Sicherheit war. Sicherlich würde ihn das in Gefangenschaft der überlegenen Verfolger geraten lassen, womöglich würde er für die junge, allzu tollkühne Baronin sein Leben lassen.
War er dazu wirklich bereit? Sollte man sich vielleicht einfach ergeben? Gab es einen dritten Ausweg? Zum ersten Mal in seinen Leben flehte der Ritter Hesinde um eine Eingebung an.
Nein, Lindos wusste, dass er nicht in der Lage wäre, die Flussgardisten länger als wenige Augenblicke aufzuhalten: Die Kämpfer im Herzogenrock waren nicht nur besser gerüstet und bewaffnet als er, sondern zudem auch noch ausgeruht. Dazu kam die immer übler schmerzende Verletzung am linken Oberarm, die sich Lindos im Kampf mit den Unbekannten im Hurenhof zugezogen hatte. Auf die angeheuerten Helfer setzte Lindos in dieser Situation keinen Kreuer.
So musste eine andere Möglichkeit her: Er würde zum Darlin hinunterrennen, und dort mit reichlich Lärm versuchen, die Flussgardisten abzulenken. Mit etwas Glück würde die Baronin zusammen mit einem der Helfer und dem Bürgermeister in Richtung Weidleth verschwinden können.
Gesagt getan: Lindos blieb stehen, Odrud schaute sich irritiert um. Der Ritter wechselte ein paar Blicke mit der recht verzweifelt wirkenden Baronin. Er gab ein kurzes Handzeichen hin zum Siechenhaus, dann zog er seinen Säbel und fixierte die näherkommenden Flussgardisten auf ihren schnaubenden Rössern. Es bedürfte keiner Worte. Die Baronin wusste, dass Lindos bereit war, sch für sie zu opfern. Für sie, ihre Flucht. Für sie und ihren im Rückblick so dummen Plan, den Bürgermeister der Herzogenstadt zu entführen.
Odrud hob mit einem der weiteren Entführer den ohmächtigen Bürgermeister erneut in die Höhe und schlug sich ohne zu zögern und ohne auf die dornengespickten Brombeerhecken zu achten ins Unterholz links der Via Ferra, sie orientierte sich am Siechenhaus und der mächtigen Kuppel der Sankt-Reghian-Sakrale hoch über der Stadt. Weg, nur weg, das war nun die Devise.
Währendessen warteten Lindos und der zweite Entführer mit gezogenen Waffen die näherkommenden Reiter erwarteten. Als die Flussgardisten auf knapp fünfzig Schritt heranwaren, zischte Lindos seinem Kampfgefährten zu: „Zum Darlin! Ich folge!“ Man hörte eine Flussgardistin auf zwanzig Schritt Distanz laut rufen: „Im Namen des Herzogs! Ergebt Euch!“ Nun lief auch Lindos einen schmalen Pfad zwischen zwei Gärten zum Darlin hinunter, wobei bei der Weg so uneben war, dass der Ritter mehrfach stolperte. Er hörte die Kommandos der Leuenantin: „Absitzen! Ihr beiden, mir nach! Ihr, Verfolgung aufnehmen! Bringt mir die Mistkerle!“ Zudem hörte Lindos etwas, das ihm gar nicht gefiel: Mindestens eine Armbrust wurde mit dem Geißfuß gespannt.
Als Lindos nach zweimaligem Abbiegen am steinigen Ufer, das von glitschigen Uferpflanzen bestanden war, angekommen war, stand dort, Deckung hinter einer gerade einmal mannshohen Trauerweide suchend, der andere Entführer. Der Darlin war hier gut achtzig Schritt breit, knapp hunderfünfzig Schritt darlinabwärts lag die Pervalsbrücke. Der Ritter schaute den Kämpfer an, sah die Angst in seinen Augen, und sagte: „Schwimm um Dein Leben, wir sehen uns am anderen Ufer!“ Das ließ sich der Mann nicht zweimal sagen und eilte in den Darlin hinein, Lindos versuchte durch die Gartenzäune, Beerensträucher und Bohnenranken hindurch auszumachen, ob auch wirklich alle Flussgardisten ihm folgten. Doch es schien, als würden nur zwei Flussgardisten ihm folgen. Die beiden stolperten den Weg zum Ufer hinab, den auch er genommen hatte.
Der Ritter nahm ein paar Steine, brach ein paar Äste ab – und warf diese auf den Darlin hinaus, wo es kräftig platschte. Dann brach er einen Pfosten aus dem Gartenzaun, wickelte seinen Mantel darum und schleuderte ihn auf den Fluss hinaus, so weit er nur konnte. Dann ging Lindos ging in die Hocke, hinter einer Hecke. Er warf zwei weitere größere Steine in den Fluss, da tauchten zwei den engen Weg herunterstolpernde Flussgardisten in gerade einmal zwei Schritt Abstand zu seiner Rechten auf. Die Männer, beide mit gezogenem Langschwert und einer Fackel, sahen den flüchtenden Entführer, der knapp zwei Dutzend Schritt entfernt im Fluss stand, der ihm gerade bis zur Hüfte reichte. Dann zeigte der eine Gardist – Lindos, der nicht zu atmen wagte, den Rücken zuwendend – auf den darlinabwärts davontreibenden Ast mit dem Mantel und rief: „Sie fliehen in den Darlin! Hinterher!“ Lindos' Finte hatte Erfolg!
Doch dann sah Ritter, wie der andere Flussgardist irgendwie einen Augenblick zu lange auf den treibenden Ast starrte – offensichtlich ahnte der Mann etwas. Das Kettenhemd des Flussgardisten rasselte fast unhörbar – jeden Moment würde der Streiter des Herzogs sich ruckartig umdrehen und Lindos sehen, dem musste der Ritter zuvorkommen: Er hob brüllend seinen Säbel, machte einen mächtigen Satz nach vorne und traf den Flussgardisten, der sich im gleichen Moment umdrehte, mit aller Gewalt in die Schulter. Die Klinge drang mehr als spanntief in den Leib des Mannes, dem das Blut in Strömen aus der klaffenden Wunde schoss. Der andere Flussgardist drehte sich reflexartig um und attackierte sofort Lindos, der seinen Säbel nicht aus seinem sterbenden Gegner befreien konnte, die Klinge bewegte sich keinen Finger. Lindos hatte nun gar keine andere Wahl mehr, als sein Heil in der Flucht zu suchen.
Er rannte, unter einem Schwertstreich des zweiten Flussgardisten nur knapp hinwegtauchend und hoffend, nicht auf einem der glitschigen Steine im flachen Uferwasser auszurutschen, in den selbst im Hochsommer unangenehm kühlen Darlin hinein. Der Flussgardist stürmte ihm schnaubend hinterher, war aber aufgrund seiner Rüstung und Bewaffnung den entscheidenden Schritt langsamer. Die Leuenantin auf der Via Ferra befahl in diesem Moment lautstark: „Ihr beiden, Suche dort drüben abbrechen! Alle Mann hinunter zum Ufer! Die Hunde versuchen ihr Glück im Darlin!“
Als das Wasser Lindos bis knapp zur Hüfte reichte, stürzte sich der Ritter in den Darlin und schwamm, so schnell er konnte. Das Schwert seines Verfolgers schlug nur einen Halbfinger hinter seinem Fuß ins Wasser. Lindos schwamm und schwamm, er musste ans andere Ufer. Er wusste nicht, wie weit er schon war, als er einen stechenden Schmerz im Rücken spürte. Doch er schwamm weiter. Würde er nun ohnmächtig werden, er würde ertrinken. Weiter, weiter, weiter! Lindos biss die Zähne zusammen, sein linker Arm schmerzte unerträglich, er spürte, wie er Blut verlor. Doch das Ufer lag direkt vor ihm, die Pervalsbrücke war nicht weit entfernt. Dann wurde es finster.