Der Ruf des Friedwanger Raben 1032 BF: Teil 17
Briefspielgeschichten der Golgariten
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Bishdarielon hatte einen Moment vor Grauen die Augen geschlossen (oder ob der Rauschpilze die Besinnung verloren, er wusste es nicht Recht zu sagen). Als er sie wieder öffnete, war die Tentakelkrähe verschwunden, sonst hatte sich nichts an der grausigen Szenerie verändert. Der Teich glitzerte vor ihm silbern im Mondlicht, das Wasser kräuselte sich sanft, in der Nähe murmelte der Bach – eine Ruhe, die in diesem Moment alles andere als beruhigend wirkte, sondern wie eine Vorankündigung der unausweichlichen, ewigen Todesstille.
Am Saum des Gewässers spiegelten sich die Flammen des Lagerfeuers, ebenso wie die Silhouetten leicht (oder überhaupt nicht mehr) bekleideter Frauen. Heller Rauch mischte sich mit dem Nebeldunst der Nacht. Waren es Glühwürmchen, oder Funken, die sich in das irre Reigen mischten? Noch immer trällerten Flöten, wummerten Trommeln, drehte sich die Leier und quäkte die Sackpfeife: Die Musik klang nicht mehr melodisch, eher wie Schreie enthemmter Tiere, die sich nun wieder zeitlosen Trieben hingeben durften.
Die Hexen tanzten in wilder, orgiastischer Ekstase, ihre Haare flogen und flatterten im Nachtwind, am Rande des Treibens fielen sie gar schon über ihre nackigen Gespielen her, es schien kaum vorstellbar, dass die ungehemmte Levthanslust in dieser Nacht noch irgendwie steigerbar sein würde. Es sei denn, ihr wurde ein menschliches Opfer gebracht ?!
Nach den Momenten der Panik verrann die Zeit jetzt wieder quälend langsam, als wollte sie ihn, mit jedem gepressten Atemzug, daran erinnern, dass am Ende der Tod auf ihn wartete. Ein grausamer, greller, wenn auch hoffentlich schneller Tod in den Flammen. Er ruckte wie verrückt an seinen Fesseln, an den Weidenruten, in denen er wie in einem Korsett oder Kasten einer Eisernen Jungfrau steckte. Oder einer närrischen Ritterrüstung. Vergeblich...Nur der Geruch nach Tannenzweigen vor seinem Gesicht wurde aus irgendeinem Grund intensiver. Verrückt. Ja, vielleicht sollte er einfach verrückt werden, womöglich erleichterte dies die kommende Pein. Er versuchte zu schreien, aber ein klägliches, heiseres Blöken erinnerte ihn daran, dass seine Zunge gelähmt war.Die Schmerzen kehrten zurück, seine Arme waren in die Höhe gereckt und dadurch völlig überlastet, Lederriemen schnitten in die Gelenke und auch das angeschwollene Knie bereitete ihm dämonische Qualen.
Der Golgarit schloss die Augen, ergab sich für einige Herzschläge seinem Schicksal. Bislang – bis zu Hekatas Tod – war ihm alles nur wie ein skurriles, nichtsdestotrotz irgendwie amüsantes Spiel vorgekommen. Warum nicht einmal Alten Göttern huldigen, die Zwölfe einen Tag lang gute Leute sein lassen – anderswo nannte man soetwas Volksbrauchtum. Aber Alveran hatte seine närrische Pflichtvergessenheit schnell gestraft. Im Grunde hatte er sein Los hier – ein Ende als lebendes Götzenbild für kreischende Hexenweiber - verdient. Man tändelte eben nicht leichtfertig mit einer Satuarienstochter, schon gar nicht stundenlang, während sich am Ende des Fests ein Tor zu den Niederhöllen ِöffnen sollte.
Wenigstens im Tod mit Kata vereint, höhnte der Spötter in ihm, ein Überbleibsel aus Al´Anfaner Tagen. Einen Moment lang überwältigte die Trauer um die erdrosselte Hexe sogar die tierhafte Furcht um das eigene Leben. Gewiss, sie war eine Frevlerin, eine Ketzerin gewesen, vom Äußeren her zwar äußerst gutaussehend und sinnlich, aber eigentlich gar nicht sein Typ. Aber dennoch hatte er sich auf raue Art von ihr verstanden gefühlt, war da ein Gefühl von wechselseitiger Verbundenheit (und Verstehen) gewesen, weit jenseits fleischlicher Gelüste, die diese Nacht nun endgültig beherrschten. Eine Verbundenheit, die nicht Billigen oder gar Gutheißen bedeutete – aber doch Verstehen und Respektieren. Auch oder gerade weil sie beide derart verschiedenen Welten angehörten. Sie hatte ihm geholfen, unter großer Gefahr für sich selbst – war sie am Ende für ihn gestorben? Wenn ja, dann war ihr Opfer sinnlos gewesen...
Er ِöffnete die Augen wieder, in denen, hätte ihn jemand in diesem Moment beobachtet, die Flammen des Lagerfeuers waberten gleich einer Ankündigung des eigenen Schicksals. Etwas Neues war dort unten im Gange. Ludwina, die Festkönigin, saß zwar noch immer regungslos auf ihrem Thron, beobachtete das Fest vom Rande her, wie die kleinen Tiere, die aus dem Wald gekommen waren und deren Augenpaare zwischen den Baumreihen glimmten. Aber eine weitere königliche Gestalt war hinzugetreten, scheinbar aus dem Rauch und Nebel heraus, ein übermannsgroßer Gehörnter, in Fell und Leder (oder nackter Haut?). War es der brünstige Hexengott Levthan oder der Karnmann, jene hirschköpfige Sagengestalt aus den Friedwanger Wäldern? Er wusste es, ob der Nebel vor seinen Augen wie in seinem Geist, nicht zu sagen. Die Hexlein begannen verzückt zu kreischen, lockten den späten Gast in ihren Kreis, der sich nun immer schneller, immer wahnwitziger um die Nabe des Feuers drehte wie ein bergab rollendes Rad, und versuchten das urtümliche Mannsbild wild johlend zu erhaschen. Ein Tanzboden der Niederhöllen, so schien es.
Jäher Hass auf die Hexen befiel ihn, die hier seinen nahenden Tod auch noch feierten. Ihn in eine lächerliche Vogelscheuche verwandelt hatten, seines männlichen Stolzes wie der Ehre beraubt. Wilde Rachephantasien wüteten in seinem Kopf, wo Scheiterhaufen loderten, auf denen an seiner statt die ruchlosen Weiber brannten. Er hätte nicht nachsichtig sein dürfen mit ihrer Ketzerei, keinen Herzschlag lang. Diese Kreaturen kannten nur eine Sprache, die der Gewalt und Vernichtung. Ermattet sank sein Kopf nach vorne, gegen die Gittermaske des Korbmanns und die Tannenzweige. Es war zwecklos, er würde hier nicht mehr entkommen. Ein Zupfen an seinem rechten Handgelenk lenkte ihn ab. Irgendwas machte sich dort an den Fesseln zu schaffen, löste sie – nein, eher schien es, als würde dort einfach nur der Knoten angetippt und die Bande öffneten sich von alleine. Wenig später wiederholte sich die Prozedur an seiner linken Hand. „Wasch tschum...?“ nuschelte er – und merkte erstaunt, dass er, wenn auch schwerfällig, wieder sprechen konnte. Was oder wer gerade hinter ihm zu Gange war, er schien deutlich kleiner zu sein – was ihn nicht unbedingt beruhigte. Nun schlüpfte das Wesen unter den schmutzig-weißen Riesen-Umhang des Bannstrahlers, kam nach vorne. Ein glucksendes Kichern.
„Boron, steh mir bei!“ stöhnte er, was mehr den Schmerzen im Knie galt. Nun, da die Hände nicht mehr festhingen, spürte er dort erst recht jeden einzelnen überbeanspruchten Muskel. „Wenn du mich befreien willst, beeil dich“, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Psssst!“ wisperte es von unten. „Wer bist du?“ Keine Antwort. Während der Umhang sich um ihn aufbauschte und von innen zusammengeknotet wurde – offenbar als Sichtschutz – spähte er in Richtung Hexentanzplatz. Der war nun ziemlich eingenebelt, kaum mehr als Schemen sprangen dort noch herum. Gut. Wenn er nichts sehen konnte, war umgekehrt wohl das Gleiche der Fall. Alte aranische Straußenweisheit.
Sie beide steckten nun unter einer Decke, wer auch immer der Neuankömmling war. Ein Zwerg oder Gnom, den Bewegungen unter dem Mantel nach zu urteilen. Jedenfalls löste der nun auch noch die Fußfesseln... Dann wurde nach und nach das Weidengeflecht um ihn gelockert, sein Panzer öffnete sich, von unten her. Mit den Bewegungen eines Schlangenmenschen, ächzend und stöhnend, wand er sich hinab, ins Dunkle des Umhangs hinein. Es dauerte, bis seine Bemühungen von Erfolg gekrönt waren. So ähnlich musste sich ein Schmetterling beim Schlüpfen fühlen...oder ein Kind bei der Geburt? Wenn, dann waren die „Wehen“ überaus anstrengend.
Er spürte das Holz unter sich, wollte unter dem groben Leinen hervorkriechen – und wurde von kleinen Händen in die andere Richtung dirigiert. Bishdarielon rutschte auf der seeabgewandten Seite nach unten, fiel mehr, als dass er den Scheiterhaufen hinab kroch. Er wollte aufstehen, aber sein völlig geschwollenes Knie verhinderte dieses Unterfangen sofort. Im matten Widerschein des Feuers krabbelte er auf die große Steineule zu, die leicht versetzt hinter dem Brennenden Praiosmann stand. Tau befeuchtete seine Hände, es roch nach Erde, Gras und Wald. Er rollte sich hinter den Steinklotz, spürte das Moos an dem klobigen, dunklen Felsen. Im Takt der Schmerzen wuchtete er sich mit dem Rücken hoch, lehnte sich gegen die „Kuck“. Vor kurzem war sie für ihn noch ein furchteinflößendes Götzenbild gewesen, nun erschien sie ihm gerade zu als Inbegriff einer sicheren Zuflucht. Hinter dem Felsblock war der Boden tatsächlich zu einer Mulde vertieft – ein „Eulenkuhl“ im Wortsinn. Bishdarielon sah sich um. Mondlicht und Feuerschein erhellten die Züge seines Retters – oder besser gesagt seiner Retterin. Es war ein kleines blondes Mädchen, in heller Bauerntracht, das ihn begeistert anstrahlte. Herzig, gutmütig und völlig unbekümmert, als wäre er ihr Vater und sie hätten sich seit langem nicht mehr gesehen.
An Kinder unter den Festgästen konnte er sich eigentlich nicht erinnern. War das wieder Magie, Hexenwerk? Er probierte es mit einem schiefen Grinsen: „Ich danke Dir...du bist schon meine zweite Lebensretterin heute. Möge es dir besser ergehen als deiner Vorgängerin. Also, hab Dank. Wie heißt du denn, meine Kleine?“ Die „Kleine“ linste gerade an der Eule vorbei in Richtung Tanz. Sie antwortete nicht, also fuhr Bishdarielon einfach fort, auch um die Schmerzen zu vertreiben. „Ich muss dich warnen, ich bringen Frauen im Allgemeinen nur Unglück...und umgekehrt, dünkt mir. Aber, bei meiner Seel´, vielleicht ist das bei kleinen Mädchen anders?“ Der Adelige verzerrte das Gesicht. War das am Ende alles nur eine fiebrige Rauschkraut-Halluzination? „Ich nehme an, wenigstens du gibst mir nicht die Schuld an Hekatas Tod?“ Er schloss vor Schmerz die Augen, Tränen schossen hinein. Fühlte er sich denn unschuldig? Zumindest war er, Bishdarielon, der Grund für ihren Gang über das Nirgendmeer gewesen. „Wenn Euereins von Schuld redet, muss ich immer an einen Kaufmann denken, der etwas in sein Rechnungsbuch schreibt“, sagte das Mädchen altklug. „Mein Gefühl sagt mir, dass noch etwas anderes an diesem Ort hier anwesend ist...was nicht hier sein sollte...Etwas ungemein Böses. Vorhin habe ich es ganz deutlich gespürt. Etwas Böses, das uns alles ins Verderben locken will. Es geht nicht von dir aus, da bin ich mir nun sicher. Ziemlich sicher...“ „Danke, ich mir auch. Es nennt sich Ludeger...“ Frei, dachte der Ritter. Du bist raus aus diesem verfluchtem Korbmann. Eine Art Euphorie befiel ihn. Im Grunde gefiel ihm die Situation. „Bei meiner Treu! Solltest du in deinem Alter nicht schon längst im Bett sein?“ Bishdarielon rieb sich die Handgelenke. „Was sagen eigentlich deine Eltern dazu, dass du dich nachts auf irgendwelchen Hexenfesten herumtreibst?“ „Meine Eltern sind schon sehr lange tot.“ „Oh, das tut mir leid“. Sehr lange? dachte er. Das Mädchen da ist noch keine zehn Götterläufe alt. „Trotzdem, vielen Dank, für die Befreiung. Sowas nennt man wohl Frauen einen Korb geben, haha...Sieht so aus, als wäre Golgari gerade noch mal an mir vorbeigeflogen.“ Das Kind strahlte ihn nun wieder fröhlich an. „Eine Katze hat neun Leben. Wie oft bist du schon gestorben?“ Dann blickte sie wieder über den Regenbogenteich. „Wie kann ein Fest zur gleichen Zeit so traurig und doch so lustig sein?“ „Ja, ich habe mich wirklich hervorragend amüsiert“. Bishdarielon lachte abgehackt und stand mühsam auf, die linke Hand am Stein abgestützt. „Ich denke, ich sollte jetzt besser gehen...Denn ich bin keine Katze und habe nur ein Leben. Vielleicht bin ich ja das ewige Opfer...aber ganz bestimmt nicht mehr heute nacht...“ Er humpelte einige Schritt auf den Wald zu. „Nein, nein, nicht dorthin, dahinten ist nur Dickicht und Dornen, du kommst nicht weit. Schon gar nicht in der benbukulischen Finsternis“, mahnte das Mädchen. „Und das Wichtigste hast Du sowieso vergessen.“ Sie griff sich an den Hals, nahm ein Amulett ab: Es war ein Federstein, vermutlich sogar der, den Hekata ihm gegeben hatte. Er nickte, streifte sich das Schutzartefakt über. „Was soll ich dann tun?“ „Geh in die andere Richtung. Aber bloß nicht über den Bach – dort ist bei den Festen um diese Zeit immer am meisten los, gleich nach dem Lagerfeuer. Männer, die ins Gebüsch pinkeln, Liebespärchen, die sich etwas zurückziehen wollen... Am besten du schwimmst durch den See, und versteckst dich im Wald, bis der Tag anbricht.“ „Durch den See?“ Er spähte vorsichtig am linken Flügel und den Scheiterhaufen vorbei Tatsächlich, auf der linken Seite war das Teichufer dicht mit Schilf bewachsen, gleich dahinter schloss sich der Wald an. Überhaupt war der kleine, von einem munteren Rinnsal gespeiste Regenbogen-See nicht rund, wie er erst gedacht hatte – sondern wirklich bogenförmig. Was man aber nicht gleich bemerkte, da er an den Rändern von Bäumen, aber auch felsigen Hängen umringt und entsprechend nur schwer einsehbar war. „Du lässt mich einfach gehen? Hast du keine Angst, dass ich die Geheimnisse der Hexen verrate oder ihre Pläne hintertreibe?“ „Wie sollte ein kleines, schwaches Kind wie ich dich daran hindern?“ Die ernsten Worte des Mädchens standen in seltsamen Widerspruch zum heiteren Leuchten ihrer Augen. Bishdarielon war sich nun ziemlich sicher, dass er es hier mit einer verzauberten Hexe zu tun hatte. Das „kleine, schwache Kind“ spähte immer besorgter zum Fest. „Eile dich nun, Mitternacht ist nicht mehr fern. Bald werden sie kommen, um dich zu verbrennen...Geh jetzt, du bist am Leben. Es ist wertvoll...“ „Wer auch immer du bist. Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast“. Der Ritter ging mühsam in die Hocke, um der Kleinen einen Kuss auf die Stirn zu geben – sacht, er war ja kein oronischer Kinderschänder. Er schloss die Augen, spürte nichts. Als er sie wieder öffnete, war das Mädchen wie vom Erdboden verschluckt. Ein Geist? Oder wirklich eine Halluzination? Aber er war frei, nicht mehr eingesperrt, das bildete er sich nicht nur ein.
Geduckt huschte er am Scheiterhaufen mit dem Praiosmann vorbei in Richtung See, schlug sich raschelnd durch Schilf und Binsen, spürte hier ein Pieksen, dort einen pelzigen Rohrkolben oder einzelne Rispen. Ein paar Frösche hüpften empört quakend davon, sonst nahm niemand Anstoß. Wasser gluckste in seinen Schuhen. Der Teich war erstaunlich tief, schon nach wenigen nassen, patschenden Schritten musste er schwimmen. Efferds Element roch erdig und doch frisch. Die Kühle ließ ihn in der Hitze der Nacht (angenehm) schaudern, eigentlich war das hier eine erfrischende Wohltat, für seinen geschundenen Körper ebenso wie seine zerschrammte Seele. Selbst das Knie schmerzte nicht mehr. Er tauchte seinen noch immer tauben Kopf ein, sah in die dunkle Tiefe des Sees. Ruckte hoch, prustete, er hätte für einen Moment fast die Umgebung vergessen. Nasse Haare hingen ihm ins Gesicht. Seltsam, den Hexentanz hier aus der Fischotter-Perspektive zu betrachten. Niemand dort auf der Wiese beachtete ihn, sehr gut. Sanft hüllte ihn das Mondlicht ein, die Farbenspiele auf dem Teich erinnerten wahrlich an einen schillernden Regenbogen. Seerosen schaukelten links und rechts von ihm auf dem Wasser. Er drehte sich auf den Rücken, schlug mit den Armen. Das Bad war ungemein belebend, das Wasser prickelte angenehm auf der Haut, unter dem klatschnassen Hemd wie der Hose. Zeit schien keine Bedeutung zu haben, eher noch rückwärts zu laufen. Herrlich! Nein, er musste sich zusammenreißen. Gerne hätte der Ritter ausgiebig geplanscht, aber dazu besaß er nun wirklich nicht die Muße. Mit zwei, drei kräftigen Schwimmzügen erreichte er das gegenüberliegende Röhricht, seine Füße spürten schmatzenden, schwammigen Schlamm. Keinen Moment zu spät. Die Musik war verstummt, munter schwatzend kamen die ersten Hexen näher. Er drückte sich bäuchlings in den Schlamm, spähte über die Halme, totes Holz und Farne hinweg auf die Lichtung. Es waren weniger die Menschen, die er fürchtete, sondern die scharfen Tiersinne der Hexenvertrauten.
Immer mehr der Töchter Satuarias eilten nun zum See, eine fröhlich schwatzende, glücklich ermattete Schar - Festgäste, die nach einer rauschenden Orgie nun noch zu einer ruchlosen Zerstreuung strebten. Vom Gehörnten war weit und breit nichts mehr zu sehen. Bishdarielon grub seine Hände unter Wasser in den schwarzen, faulig riechenden Uferschlamm, rieb ihn sich dick ins Gesicht. Zähflüssig quoll er ihm durch die Finger, tropfte schwer nach unten. Mit jeder Bewegung, mit der er seine „Kriegsbemalung“ anlegte, verwandelte er sich wieder in den Chapewaha, jenen „weißen Moha“, der er einst im Tiefen Süden gewesen war. Die gnadenlose Meute verteilte sich am Ufer – sie kamen, ihm den Tod zu bringen. Der Krieger duckte sich tiefer. Sie würden sein Leben nicht kampflos bekommen. Jedenfalls nicht ohne eine List, die er im Mohaha-Dorf gelernt hatte... Er brach einen einzelnen, vertrockneten Schilfhalm, steckte ihn sich in den Mund, tauchte vorsichtig unter, mit der Rechten an einen glitschigen Stein am Grund festgeklammert, um dem Auftrieb entgegen zu wirken. Sacht drehte er sich auf den Rücken , blies etwas Wasser aus dem Rohr aus, atmete kurz, schlürfte vorsichtig die kalte Nachtluft ein. Der Waldmenschen-Trick funktionierte besser, als er gedacht hatte.
Langsam wich der aufgewirbelte Schlamm um ihn wieder klarer Sicht. Verzerrt sah er über sich einzelne Halme aufragen, ein welkes Blatt schwimmen, darüber helle, weißliche Flecken tanzen: Das Madamal, mehrfach zerteilt. In seiner Seite spürte er einen morschen Ast, merkwürdig dumpf und verwaschen konnte er die Hexen sprechen hören.
Die Zauberweiber stimmten einen schaurigen Gesang an, reckten ihre Hände zum Mond am kobaltblauen Nachthimmel. Zumindest stellte er es sich so vor. Bishdarielon hätte nicht sagen können, welche Sprache dies war – ob es überhaupt die Sprache von Menschen sein sollte. „Kuk“ und „Koal´Karrah“ waren die einzigen Worte, die er erahnte, da sie immer wieder kehrten.
Es wurde kalt unter Wasser, nur das Bett aus Schlamm und verrottenden Pflanzen unter ihm wärmten ihn etwas. Der Singsang nahm kein Ende. Mit der Linken hielt er sich die Nase zu, in der es bereits kitzelte. Ein merkwürdiges Dasein, alles in allem. Schatten waberten in sein verschwommenes Gesichtsfeld, einige Hexen mussten ganz nahe sein. Er kam sich riesig vor in dem kleinen See, sie mussten ihn entdecken. Doch nichts dergleichen geschah. Irgendjemand deklamierte eine feierliche Rede, johlendes Geheul antwortete. Dann wieder befehlendes Geschrei.
Ein Flammenstrahl schoss und zuckte, einem Schweifstern gleich, über ihn hinweg, gefolgt von weiteren gleißenden Geschossen. Waren das Brandpfeile oder Hexenzauber? Der feurige Hagel nahm kein Ende, mehr noch, er schien zu heulen und zu fauchen wie ein Schwarm verrückter Feuervögel. Bishdarielon krallte sich furchtsam in den Schlamm, dann erhellte glosender Brand das Halbdunkel um ihn herum. Das Gekreische (jetzt vom Scheiterhaufen her!) nahm kein Ende. Es wurde hell, schmerzlich hell, ja, heiß. Ob er wollte oder nicht, schon die Neugier hieß ihn aufzutauchen. Er spuckte das Rohr aus. Vorsichtig, nur die Nase über Wasser, spähte er um sich.
Der Brennende Praiosmann stand in weißen Flammen, sandte Gluthauch auch in seine Richtung. Das Prasseln war ohrenbetäubend, majestätisch stieg ein gewaltiger Drache aus Rauch und Feuer über dem Scheiterhaufen empor, die Silhouette des Korbmanns war nur noch zu erahnen, hier und da zerschmolz ein Tannenzweig in hellem Rot, der Mantel verging in Windeseile wie brennendes Papier, darunter tauchten erste Rippenbögen aus Weidenruten auf und vergingen ebenfalls. Spielten ihm seine überreizten Sinne einen Streich – oder gellte wirklich ein Todesschrei durch die Nacht? Wenn er es nicht besser gewusst hätte, er hätte schwören können, dass er selbst es war, der in diesem Inferno verkohlte. Er schloss die Augen ob der Ingerimms-Hitze, ahnte qualvolle Sekunden lang, wie schrecklich so ein Tod war. Im Nu wurde der Lehm in seinem Gesicht zu Ton getrocknet und gebacken. Funken und glimmende Aschestückchen regneten herab. War der Schrei eine Illusion gewesen? Oder hatte seine Retterin durch schwarze Magie irgendeinen besinnungslosen Zecher in den Korbmann gesperrt, für den es ein grausames Erwachen gegeben hatte? Bishdarielon stellten sich vor Grauen die Nackenhaare auf. Das hier war ein Hexenfest, kein Hofball zu Gareth... Nicht daran denken, versuch selber zu überleben , ermahnte er sich. Wenn es so wäre, könntest du dem Unglücklichen ohnehin nicht mehr helfen.
Das gewaltige Feuer brannte etwas herunter, so dass er sich nach den Hexen umdrehen konnte. Diese waren vor der Hitze zurückgewichen, wirkten im taghellen Licht und Funkenregen unwirklich, wie Geister. Ohnehin hätte niemand ein Auge für ihn gehabt, alle starrten sie auf das schrecklich-schöne Ende des Praioten. Die Stimmung war nun doch ernst und feierlich: das Menschenopfer war dargebracht worden, wie in alten Zeiten, der Gerechtigkeit Genüge getan. Zumindest, was sie dafür hielten.
Der „Bannstrahler“ zerfiel am Balkenkreuz, aus dem ebenfalls Flammen züngelten. Polternd knickten die stämmigen Äste ein, fielen um, verschwanden im Vulkanschlund des Scheiterhaufens. Das grandiose Schauspiel beruhigte sich nach und nach etwas, schließlich war es nur noch ein großes Lagerfeuer, das dort tobte und sich im See spiegelte, unter dem zufriedenen Eulenblick der Kuk. Es roch nach Rauch – und wirklich nach verbranntem Menschenfleisch? Bishdarielon wollte es gar nicht so genau wissen. Rauch wälzte sich heran, biss ihm in den Augen, er musste sich erneut abwenden. Auch die Hexen verstreuten sich rasch auf der Wiese, das war sein Glück.
Der Überlebende, noch ganz benommen, kämpfte mit dem Hustenreiz, kroch durch das Schilf wie ein urzeitliches Seeungeheuer, robbte an Land, spürte den Farn und das Gras, hielt auf die Bäume zu, stand auf, ging einige Schritte in den Wald hinein, warf sich hinter einer Erle in Deckung, hustete leise, spuckte aus. Das Feuer im Hintergrund hatte nun fast etwas Beruhigendes an sich.