Du und all mein Glück - Fürstenwetter

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Dotterhaus, Oberangbar, 6. Rondra 1042

Am nächsten Morgen war Fürstenwetter: Die Sonne schien, der Himmel war strahlend blau, kein Wölkchen weit und breit.
Die Waffen an der Wand im Speisezimmer funkelten rötlich im Frühlicht, das durch die of- fenen Fenster hereinfiel; ein sanfter Luftzug durchwehte den Raum und trieb den Dampf, der über den Schüsseln schwebte, zur Tür. Es war kein üppiges Mahl, das auf dem Tisch stand, aber wer wollte, konnte die dicke, warme Grütze mit eingemachten Früchten, Nüssen und na- türlich Honig verfeinern.
In einer anderen Gegend hätte man wohl die Nase gerümpft, dergleichen auf der Tafel eines Barons zu finden; doch keiner der Gäste nahm wirklich Anstoß daran: Man aß zuhause selbst nicht anders, außerdem sollte es abends ein üppiges Festmahl geben. Nadyana erschien zuletzt. Sie trug ein grünes Kleid mit weißen Stickereien; ihre braunen Haare hatte sie zu Zöpfen geflochten und diese wie einen Kranz um ihren Hinterkopf gewunden. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, die davon zeugten, dass sie nur wenig Schlaf gefunden hatte. Ihr Bruder kicherte leise.
Man sprach das Tischgebet an Mutter Travia, dann widmete man sich dem Essen. »Ich habe gehört«, meinte Vieska von Gormel, während sie ordentlich Honig unter die Grütze rührte, »dass die Liebfelder den Brei mit Benbukkula bestreuen.« »Ich glaube, es heißt Benbukkel, liebe Schwägerin«, erwiderte Tsaja-Josmene von Garnelhaun.
»Dann eben Benbukkel!«, sagte Vieska. »Jedenfalls isst man so in Vinsalt und Grangor. Im- mer sehr pikant.«
»Ach, diese Puderquasten!«, schnaubte ihr Mann und schob sich einen Löffel in den Mund. Nadyana sah aus dem offenen Fenster. Irgendetwas war dort draußen, vielleicht ein Vogel, der im Astwerk saß und sang. Oder ein Eichhorn, das in den Zweigen tollte ein. »Herr Wolfhardt«, meinte Vieska, ungerührt vom Einwurf ihres Mannes. »Ihr wart doch schon in Grangor, oder nicht? Wie ist es denn dort? Stehn da die Straßen wirklich unter Was- ser, wie man sagt?«
Nadyana lächelte; sie nahm sich eine Nuss und schien zu überlegen ... »Herr Wolfhardt?«, sagte Vieska und sah den Hausherrn fragend an. Dieser blinzelte verwirrt. »Ich bitte um Verzeihung ... Was habt Ihr eben gesagt?«

Nach dem Frühstück brach man auf, es ging zum Götterdienst. An diesem besonderen Tag fand er nicht in einem Tempel statt wie sonst, sondern auf freiem Feld. Auf einer Wiese vor den Mauern war aus Steinen und Hölzern ein schlichter Altar errichtet worden, vor dem sich die Gläubigen im großen Halbkreis versammelten. So mochte es vor über tausend Jahren auch gewesen sein, als Raul und die Seinen die Götter um Beistand anriefen, bevor sie in die Schlacht zogen.
»Und ihr Flehen wurde erhört!«, schloss Ihro Gnaden Alrike Aschengrau die Predigt. Nadyana lauschte aufmerksam, den Mund ein wenig geöffnet. Der zarte Flaum an ihrem Nacken schimmerte golden in der Sonne.
Und plötzlich schwebte ein Lied durch den Morgen, schwang sich aus dem feuchten Wie- sengrund empor in den noch immer wolkenlosen Himmel, stieg und stieg, von vielen Stimmen getragen, zur Ehre der hohen und unteilbaren Zwölfe. »Es fährt ein Flammenwagen«, sangen die Bürger von Oberangbar, und der Götterfürst grüßte sie freundlich mit seinen Strahlen. In solch einer friedlichen Stunde inmitten der blühenden Wiese erschien das Schlachtengetümmel, von dem man eben in der Predigt gehört hatte, unendlich weit entfernt – und doch hatte man auch im schönen Koscherland schon oft die Fackeln des Krieges lodern sehen. Und war nicht Oberangbar nur durch ein Wunder im Jahr des Feuers vor dem Wüten des Alagrimm verschont geblieben? Wie leicht hätte damals alles zu Ende sein können ... Nadyana kannte den Text des Chorals und sang ihn fröhlich mit. Beim jeweils höchsten Ton einer Strophe wippte sie auf die Zehenspitzen, als müsse sie ihn mit dem ganzen Körper erreichen und nicht nur mit ihrer Stimme.
»So gehet denn hin in diesen Tag, den die Götter uns schenken, und freuet euch des Lebens!«, schloss Ihro Gnaden Alrike Aschengrau und hob segnend die schwieligen Hände.