Rohals Steg

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(Notiz: Holzsteg hat in den letzten Jahren plötzlich seine Gestalt gewandelt).

Die Sage von Rohals Steg

Am zweiten Tag nach Angbar überraschte mich die Dunkelheit weit weg vom nächsten Weiler. Ich sah mich nach einem geeigneten Schlafplatz um und fand mitten zwischen einigen großen Blöcken einen alten Schiffsteg, der weit bis in die Wiese hinein reichte. „Kein schlechtes Dach,“ dachte ich und machte es mir bequem darunter. Ich notierte einige metaphysiche spekulationen, die mir die Göttin eingegeben, in mein Reisejournal, dann löschte ich die Öllampe und wiegte mich bald in süßesten Träumen.

Mitten in der Nacht wegte mich ein eigenartiges Gefühl. Die Luft war seltsam warm und feucht. Das Madamal schien silberhell vom Himmel. In der lauen Brise war ein Laut wie vielstimmiges Flüstern, und der See lag glatt wie ein Spiegel. Ich wickelte mich aus den Decken und stemmte meinen müden Körper auf den Holzsteg. Ich rtaute meinen Augen nicht:

Schon abends schienen mir die großen Blöcke eigenartig geformt; nun aber hatten sich Fratzen und Klauen gebildet, und aus steinern Mäulern kam jenes Flüstern, das mich geweckt hatte. Um die Steine aber schwirrten Dutzende Irrlichter wie Motten um die Kerze.

Ich wäre ein schlechter Diener meiner Göttin, hätte ich nicht versucht, das Flüstern zu verstehen. Bald erkannte ich, daß die Fratzen mit verschiedenen Zungen sprachen. Einige murmelten auf Garethi:


Zwei Dinge gehen

Zwei Dinge stehen

Zwei Dinge kommen

Hast du‘s vernommen?


Andere wisperten in Bosparano:


Da sind zwei Brüder.

Was der eine gibt,

Nimmt der andere wieder.


Die dritten aber benutzten eine Sprache, die mir zeitlebens nicht begegnet war.

Ich fühlte wohl, daß hier etwas höchst bedeutsames vor sich ging. An Schlaf war nicht zu denken, geheuer war‘s mir hier auch nicht. Ich packte meine Siebensachen und wanderte durchs Dunkel weiter.

Frühmorgens in der Dämmerung erreichte ich einen Hof. Die Bäurin war eben aufgestanden, um die Kühe zu melken. Ich grüßte sie und bat um etwas Milch, dann erzählte ich von meinem nächtlichen Erlebnis. Sie gewahrte meine Ratlosigkeit und begann zu erzählen:

Was Ihr gesehen habt, Euer Gnaden, hat unserer Gegend den Namen gegeben — dies ist der Rohalssteg.

Vor vielen hundert Jahren, als die Garether ihn vom Thron vertrieben hatte, sammelte Rohal seine Freunde und Schüler am Ufer des Angbarer Sees. Er wollte Abschied von ihnen nehmen, denn es war Zeit, daß er zu den Göttern zurückkehrte, woher er gekommen war. Da versammelten sie sich also: Zauberer und Schriftgelehrte, Priester, Barden und Heiler; dutzende der größten Köpfe des ganzen Reiches. Alle strömten herbei, um noch einmal die Worte des göttlichen Weisen zu vernehmen.

Aber noch einer hatte den Ruf Rohals vernommen: Der Namenlose in seiner Hölle sah seine Stunde kommen. Lange war ihm dieser Mensch verhaßt gewesen, der den Reich soviel Ruhe und Frieden gebracht hatte. Nun glaubte er, ihn verderben zu können, wenn Rührung und Schmerz des Abschieds die Kräfte des Weisen gefangennahmen. Und der Erzfeind sandte seine neun fürchterlichsten Dämonen zu diesem Behuf.

Rohal hatte derweil seine Jünger ermahnt zu Liebe und Brüderlichkeit, damit die Zeit der Blüte auch nach seinem Weggang noch anhalte. Nun trat er auf den hölzernen Steg, wo ein goldenes Schiff mit den Schwingen eines Vogels wartete, um ihn zu den Göttern zu tragen. Die Menge drängte sich zum letzten Gruß heran — da zuckten feurige Blitze vom Himmel und säten Tod und Verderben unter die Versammelten. Rohal hob den Blick und sah die Schergen des Namenlosen am Himmel hangen; ihre scheußlichen Fratzen spien Vernichtung herab. Freund um Freund sank neben dem Weisen zu Boden, der Steg war von Leichen bedeckt. Als der letzte fiel, triumphierten die Dämonen und richteten ihre Augen auf den Göttlichen. Da fuhr ein Krampf durch seinen ganzen Leib, ein Schrei löste sich aus seiner Kehle in einer fremden Sprache. Die Unholde erstarrten vor Entsetzen. Sie versuchten zu fliehen, aber die Macht Rohals zog sie unwiderstehlich an, rammte sie um den Steg in den Boden und verwandelte die fürchterlich Schreienden in schwere, leblose Felsblöcke.

Als er dies vollbracht hatte, setzte sich Rohal auf den Steg und weinte um seine verlorenen Freunde. Dann aber erhob er sich und stieg in das wartende Schiff, das seine Schwingen ausbreitete und ihn hinweg trug von Dere nach Alveran. Eines Tages aber, nach dem Ratschluß der Zwölf, wird er am selben Orte wiederkehren, und in ganz Aventurien wird für immer Friede herrschen.“


Bis hier hin hatte ich schweigend zugehört. Nun aber wurde meine Neugier zu stark: „Die Felsen sind also die Schergen des Namenlsoen. Was aber hat ihr Flüstrern zu bedeuten?“ „Die besiegten Dämonen“, sagte die Frau, „müssen nun dem Guten dienen. In Vollmondnächten erwachen sie, und sie flüstern Rätsel, die noch kein Mensch lösen konnte. Wer sie aber löst, dem wird der weise Rohal erscheinen, und bittet er ihn um Hilfe, so wird sie ihm nicht verwehrt bleiben.“

„Zwei der Rätsel habe ich wohl verstanden“, wandte ich ein, „eines aber war in einer mir gänzlich unbekannten Sprache.“

„Oh, ja, Euer Gnaden, man sagt, das dritte Rätsel sei in der Sprache, die die Götter selbst in Alveran sprechen, und niemand hat es bis heute übersetzten können!“

Das schien mir nun ein reichlich unnützes Orakel, das sich doch gar nicht beschwören ließ, und kopfschüttelnd verabschiedete ich mich von der Frau. Ich grübelte und grübelte, während ich weiter zur Burg des Barons wanderte, und plötzlich kam mir ein Gedanke. Kannten nicht die Bewohner Araniens eine Sage, wonach in der Steppe einst Nandus selbst eine Bibliothek errichtet hatte? Wenn irgendwo die Sprache der Götter beschrieben sein könnte, dann in den Aufzeichnungen des Sohnes der Göttin! Ich mußte diese Stelle bei Gelegenheit nachlesen…“

(Aus „Dichtung oder Wahrheit?“, Artikelserie im „Hesindespiegel“, von Hetter Sindarin, Kuslik, 1011 BF)