Unter dem Schleier - Wie Mutter und Tochter

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Tempel unserer gütigen Etilia, 26. Travia 1043

„Sie hat mich angelogen!“, konnte es Marbolieb Tempeltreu noch immer nicht fassen, „Hochwürden hat mich angelogen! All die Götterlaufe hat sie mich angelogen!“ Vollkommen fassungslos schüttete sie ihren Kopf. „Hat mir meine Mutter vorenthalten. Meine Mutter! Warum?“ Dicke Tränen kullerten dem Mädchen über die Wangen, ihr Schleier war bereits ganz feucht. „Warum?“

Hal von Boltansroden, bei dem sie Trost suchte, wusste gar nicht so recht, was genau geschehen war, doch wie immer blieb er die Ruhe selbst, bat sie zuerst einmal ganz in seine Kammer im Tempel unserer gütigen Etilia, in den sie zum Tag der Toten zurückgekehrt waren, herein und bot ihr in einen Platz in einer kleinen Sitzecke an. „Lass uns zusammen eine Tasse Tee trinken, Räblein“, hob er mit seiner ruhigen Stimme an und goss ihr eine Tasse ein. Heißer Teedampf stieg auf. „Wenn dir kalt ist, wird Tee dich erwärmen, wenn du erhitzt bist, wird er dich abkühlen, wenn du bedrückt bist, wird er dich aufheitern, wenn du erregt bist, wird er dich beruhigen.[1]“ Ihren fragenden Blick konnte er zwar nicht sehen, aber spüren. „Das hat meine werte Frau Mutter – Boron sei ihrer Seele gnädig – stets gesagt“, damit setzte auch er sich, „Du wirst sehen, sie hat recht.“

Schweigend tranken sie ihre erste Tasse Tee. Marboliebs Tränen trockneten allmählich und je leerer ihre Tasse wurde, desto ruhiger wurde sie auch.

„Nun erzähl, Räblein“, forderte er sie ruhig auf als er ihre Tassen ein zweites Mal füllte, „Erzähl.“

„Hochwürden kannte meine Mutter“, hob sie mit brüchiger Stimme an, „Und hat mir doch mein Leben lang vorgemacht, sie nicht gekannt zu haben.“

„Dann bist du...“, wie immer sprach er sehr langsam und bedächtig, „... kein Findelkind?“

Marbolieb schüttelte ihren Kopf und bestätigte: „Kein Findelkind. Meine Mutter hat mich in die Obhut des Tempels – besser gesagt in Hochwürdens Obhut – gegeben.“

„Ich verstehe“, nickte der Geweihte bedächtig, „Und nun grollst du ihr, weil sie es dir verschwiegen hat?“

Zuerst nickte sie nur, dann fügte sie hinzu: „Nicht nur, dass sie es mir verschwiegen hat, Bruder Hal, sie hat mich angelogen! Die ganze Zeit.“ Verständnislos schüttelte sie ihren Kopf. „Angelogen, versteht Ihr?“

Er nickte.

„Ausgerechnet Hochwürden!“, brach es aus ihr heraus, „Ausgerechnet sie! Von uns fordert sie doch stets nichts als die Wahrheit und selbst? Warum hat sie das getan? Warum? Ich kann es einfach nicht begreifen. Dabei war sie... war... war... war wie eine... eine Mutter für mich. Eine Mutter!“

Wieder nickte er: „Vielleicht hat sie es deswegen getan?“

Fragend schaute sie ihn unter ihrem Schleier an. Ihre dunklen Augen glitzerten.

„Mütter schützen ihre Kinder“, erklärte er und trank einen Schluck Tee, „Ganz gleich zu welchem Preis und eine Lüge ist ein äußerst geringer...“

Marbolieb schien verdutzt. Das merkte er ihr auch an. Mittlerweile kannte er sie gut, konnte sie lesen wie ein Buch, auch ohne ihr Gesicht zu sehen. Ihre Körperhaltung verriet ihm viel, obgleich nicht alles. „Wie...“, stammelte sie, „... wie... wie... wie meint Ihr das?“

„Wenn sie für dich wie eine Mutter ist“, griff er ihre Worte auf, „Vielleicht bist du für sie wie eine... hm... Tochter?“

Marbolieb wusste darauf nichts zu erwidern und trank stattdessen einen Schluck Tee.

„Ich denke, dass ich dir nicht sagen muss, dass du weitaus mehr für Hochwürden bist als irgendeine Novizin. Weitaus mehr, Räblein. Weitaus mehr. Und so versucht sie dich ganz besonders zu schützen. Wenn sie dir also die Wahrheit verschwiegen hat, hatte sie gewiss einen guten Grund. Hast du sie dazu befragt?“