Unter dem Schleier - Fluch

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Tempel unserer gütigen Etilia, 26. Travia 1043

„Ein Fluch“, begann Marbolieb Tempeltreu zu erklären, „Es hatte irgendetwas mit einem Fluch zu tun, dessen Existenz Hochwürden aber bezweifelt, vor dem sich meine Mutter dennoch gefürchtet haben soll.“

„Was für ein Fluch?“, hakte Hal von Boltansroden ruhig nach.

„Das wollte sie mir nicht sagen“, erwiderte die Novizin kopfschüttelnd, „Sie hat aber wiederholt betont, dass es keinen gegeben habe. Trotzdem hatte meine Mutter Angst. Große Angst. Auch um mich. Daher gab sie mich an den Tempel und an Hochwürden.“

Verstehend nickte er.

„Und sie muss wirklich große Angst gehabt haben! Ich meine...“, sie stockte, „Sie hat ihr gerade eben geborenes Kind – mich – an den Tempel gegeben, anstatt mich selbst großzuziehen.“

Wieder nickte der Geweihte.

„Sie muss wirklich sehr verzweifelt gewesen sein...“

„Es ist unsere Pflicht gerade jenen beizustehen“, hob Hal ruhig an, „die sonst nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Wir sind ihre letzte Zuflucht.“

„Das sagt Hochwürden auch immer“, stimmte die Novizin ihm zu, „Trotzdem... trotzdem hätte sie mir sagen können – nein, müssen – dass sie meine Mutter kannte.“

„Vielleicht“, hob er da nachdenklich an, „Vielleicht wollte sie dich aber auch nur davor schützen, dich zu sehr in den Gedanken an deine Mutter zu verlieren und...“ Der Geweihte hielt einen Moment inne. „... dein Leben damit zu verbringen, auf ihren Spuren zu wandeln und nicht deine eigenen zu hinterlassen.“

Marbolieb schüttelte ihren Kopf: „Auf welchen Spuren denn?“ Die Novizin zuckte mit den Schultern. „Sie ist tot. Im Jahr des Feuers gestorben. Wo sollen denn da noch Spuren sein?“ Geradezu resignierend guckte sie drein. „Ich kenne ja nicht einmal ihr Grab, nur ihren Namen: Sanja von Pul.“

Einen winzigen Augenblick lang glaubte Marbolieb eine Mischung aus Ungläubigkeit und Entsetzen im Gesicht des Geweihten erkannt zu haben, doch es war genauso schnell wieder weg, wie sie es zu sehen geglaubt hatte, wenn es denn überhaupt wirklich da war. Hal von Boltansroden füllte zum dritten Mal ihre Tassen.

„Pul?“, fragte er und räusperte sich, „Sind das nicht... nicht Vasallen der Schneefelser?“

„Doch“, kam die kehlige Antwort der Novizin.

„Dann sollte das Haus Pul deine erste Anlaufstelle sein“, meinte der Geweihte und mühte sich einen Schluck Tee zu trinken. Das Zittern seiner Hände konnte er dabei geschickt verbergen.

„Ja, schon, aber... aber... sehr wahrscheinlich wissen sie nichts von mir und...“, gab die Novizin zu bedenken, „Und ich weiß einfach nicht, was ich ihnen sagen soll...“

„Du bist eine angehende Geweihte des Schweigsamen. Glaubst du wirklich, dass sie dich fragen werden, warum du gekommen bist?“, mit seinen braunen Augen schaute er sie fragend an, „Wohl kaum. Und auch wenn die meisten dort draußen nicht gerne den Tod zu Gast haben, so wird dir keine Tür verschlossen bleiben. Obdach ist dir also mindestens gewiss.“

Mit ihren funkelnden dunklen Augen schaute sie ihn an und wisperte: „Ich war noch nie... noch nie... alleine dort draußen.“

„Dann wird es höchste Zeit, dich dieser Prüfung zu stellen, Räblein“, ermutigte der Geweihte sie, „Du magst den Tag vielleicht hinauszögern, doch kommen wird er. Warum also nicht jetzt?“

„Und...“, suchte die Novizin nach Ausflüchten, „Was soll ich dort draußen tun? Ich habe meine Weihe noch nicht erhalten...“

„Für den Dienst dort draußen an den Menschen ist keineswegs eine Weihe notwendig“, versuchte Hal sie zu beruhigen, „Unser Herr hat dich immer auf deinem Weg begleitet. Das wird auch nun nicht anders sein. Weihe hin oder her.“

„Und...“, hob sie da mit sichtlichem Unwohlsein an, „Und wenn sie mich doch fragen?“

„Dann tu das, was wir, die Diener des Schweigsamen, angeblich am Besten können: Schweige.“

Da blickte Marbolieb ihn mit den Augen ihrer Mutter an und für einen Moment setzte sein Herz aus.