Bewährungsprobe am Trolleck - Angbarer See?

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1033 BF, Trolleck

Barfüßig stand Wilbur vom See auf einem Weg aus feinem Sand.
Dichter Nebel umwallte ihn und die kalte, nasse Luft ließ seinen Atem in kleinen Wolken aufsteigen. Er rieb sich mit den Händen über die Oberarme, doch es war vergebliche Liebesmüh: Das dünne, blaue Nachthemd, was er trug, bot einfach nicht genügend Schutz gegen die ihn umfangende Kälte und schon begannen sich die Härchen an seinen Unterarmen aufzurichten, um den aussichtlosen Kampf mit der niedrigen Temperatur aufzunehmen.
Er wusste, wo er war, auch wenn der dichte Nebel kaum mehr als ein paar Büsche erkennbar ließ.
Zu bekannt und vertraut war ihm die Umgebung, auch wenn ihr jetzt in diesem Augenblick etwas Fremdes anhaftete: Dieser Weg führte hinunter zum Steg, an dem die Elida liegen würde und, ja, hinter ihm befand sich das Grafenschloss. Der Ort, an dem er aufgewachsen war.
Ein Ort, der Ausgangspunkt zahlloser Ausflüge gewesen war; zu Wasser wie zu Lande. Ein Ort erfüllt von Freude und Wohlbehagen.
Doch das Lachen war verklungen. Dort erwarteten ihn keine Arme, die ihn geborgen halten würden. Sollte er dennoch hineingehen? Immerhin würde es dort wohlig warm sein.
Für einen Augenblick zögerte er. Sollte er nicht eigentlich an einem ganz anderen Ort sein? Er hatte es vergessen und schon wollte er sich schulterzuckend zu der kleinen Tür aus nussbraunem Holz umdrehen, die ihm den Weg durch den Dienstbotentrakt zu seinen Räumlichkeiten öffnen würde, als eine Stimme durch den Nebel an seine Ohren drang:
"Wilbur, mein Sohn."
Der junge, braunhaarige Mann stockte: "Vater?" Die Stimme war verzerrt, aber er glaubte, dass sie von der Anlegestelle der kleinen, eleganten Jacht an sein Ohr drang.
"Komm zu mir, mein Sohn, lass Dich anschauen", forderte die Stimme ihn auf.
Ein Schauer lief Wilbur über den Rücken. Wie geisterhaft die Szenerie und der Ruf doch wirkten!
Dennoch setzte er sich, wenn auch vorsichtig, Richtung See in Bewegung. Es war nicht nur Neugier, die ihn antrieb, sondern vor allem Hoffnung.
Der Tod seines Vaters war heldenhaft gewesen. Alle, die seinen Mut vorher in Frage gestellt hatten, waren vor Scham verstummt. Er hoffte so sehr darauf, auch diesen Mut in sich zu finden!
Er musste seinen Vater so Vieles fragen; so Vieles sagen. Und während er noch dachte, beschleunigte sich sein Schritt, liefen seine bläulich anlaufenden Füße den Weg entlang. Das Knirschen des Sandes ging in den hohlen Klang von hölzernen Bohlen über, die ihn über das Wasser trugen.
Endlich gab der graue Nebel die Sicht auf das Ende des Steges frei. Doch die Elida war nicht dort und sein Vater ebenso wenig.
Nicht sein Lachen, das so herzlich war, nicht die feingliedrigen Hände, die ihn stets geführt hatten. Gar nichts.
Nur ein zerrupft wirkender Rabe hatte sich auf einer einsam aufragendem Pfahl niedergelassen. War sein Vater etwa in den See gefallen?
Wilbur, der seinen Schritt gestoppt hatte, näherte sich achtsam dem von Schlieren überzogenem, dunklem Wasser.
"Ich bin hier, mein Sohn... mein geliebter Sohn. Wie schön es ist, Dich zu sehen, kraa."
Der junge Graf wäre fast ins Wasser gestürzt vor Überraschung: Der Rabe hatte gesprochen! Mit neu erwachter Neugierde trat er an den Vogel heran, betrachtete die dunklen, wissenden Augen und stockte: "Ihr seid nicht mein Vater!"
"Das Äußere ist wandelbar, rak,..." setzte der Rabe an, doch Wilbur unterbrach das schwarze Federvieh:
"Das ist es nicht. Ihr habt nicht die Augen meines Vaters, nicht die Stimme... selbst die Worte klingen falsch. Nie und nimmer, seid ihr mein Vater."
Der zerzauste Vogel blickte ihn einen Moment starr an, dann ließ er die Schultern hängen, soweit dies einer Kreatur mit Flügeln möglich war:
"Ihr habt Recht. Wahrlich die Instinkte eines Herrschers, rak."
Graf Wilburs Enttäuschung ließ ihn ungewohnt scharf antworten: "Erspart Euch und mir die Beweihräucherung und sagt mir lieber, wer Ihr seid."
Die schwarzen Knopfaugen schienen den Mann, der gerade erst dem Knabenalter entwachsen war, geradezu vorwitzig anzufunkeln: "Jemand, der Euch eine Hilfe sein kann."
Wilbur schnaubte: "Ihr habt eine seltsame Art, das zu zeigen, Herr Rabe."
Ein Seufzen, das so ganz und gar nicht zu dem spitzen Schnabel passen wollte, entrang sich seinem gefiederten Gegenüber: "Die Rede eines Fremden ist eine Böe, das Wort eines Freundes ein Sturm. Verzeiht mir, ich war unverfroren."
Wilbur setzte mehrmals zu einer Antwort an, konnte sich aber nicht recht darauf einigen, was zu sagen wäre und kam sich auch reichlich dumm dabei vor, mit einem Vogel zu diskutieren.
Schließlich beließ er es bei einem: "Nun, wenn Ihr denkt, dass man Vetrauen auf einer Lüge aufbauen sollte, dann... dann habt Ihr wohl nicht mehr alle Federn am Flügel. Und jetzt entschuldigt mich. Ich werde gehen."
Dann wendete er sich ab, ließ den Raben auf seinem Pfahl im flachen Wasser des Sees zurück und verschwand im Nebel. Der Vogel blieb hocken, lauschte noch den Schritten bis das Patschen des barfüßigen Adligen auf dem nassen Holz nicht mehr zu hören war und begann sich die Federn sorgsam zu ordnen; ohne großen Erfolg. Aber das spielte keine Rolle. Er hatte Zeit. Zeit war ohne Bedeutung an diesem Ort.
Es dauerte nur wenige Herzschläge und energische Schritte näherten sich.
Der Rabe hob den schwarzen Schopf und blickte in die entschlossene Miene eines jungen Mannes: "Ihr werdet mich augenblicklich gehen lassen, Rabe!"
Der Rabe verdrehte das Haupt seitlich und blinzelte: "Habe ich Euch denn im Wege gestanden, rak, rak?"
Im empörten Tonfall eines Menschen, der es gewohnt war, dass seinen Wünschen Folge geleistet wurde, verkündete Wilbur: "Ich konnte weder das Schloss betreten, noch irgendwo anders hingelangen. Ich bin wie ein Narr im Kreis gelaufen und Ihr wollt mir sagen, dass Ihr Nichts damit zu tun habt?"
Der Rabe sank deutlich in sich zusammen ob des unerwarteten Ausbruchs bevor er antwortete: "Dies ist Euer Traum, Hochwohlgeboren. Wenn Ihr das Schloss nicht betreten und den Garten nicht verlassen könnt, dann nur, weil ihr es nicht wollt. Kra."
Der Jüngling mit dem dünnem, braunen Haar stutzte: "Ein Traum?"
"So ist es", bestätigte sein schwarzgefiederter Gesprächspartner.
"Seid ihr etwa ein Gesandter Borons?" fragte der Graf fast schon vorsichtig und bereute kurz darauf seinen Anflug von Ehrfurcht als der Rabe geradezu keck antwortete: "Wer weiß?"
Doch bevor er dem unverschämten Gesellen einen Verweis erteilen konnte, führte dieser aus: "Wer von uns Sterblichen vermag schon zu sagen, ob er mit seinem Handeln oder Reden einem göttlichen Willen folgt, rak? Vermögt Ihr es zu sagen? Vermag es selbst ein Patriarch stets zu unterscheiden? Woher soll ich es denn wissen? Doch wenn Ihr meint, Euer Hochwohlgeboren, ob Boron zu mir gesprochen hat und mir Anweisungen gab, was ich zu tun hätte, so muss ich dies verneinen. Aber wäre dies denn auch die Art des Schweigsamen?"
Eine Zeit lang herrschte Stille und nur das leise Geräusch des Wassers und das Rascheln in den Binsen, welches das eisige Nass erzeugte, war zu hören.
Nachdenklich ging Wilbur auf und ab und überwand sich schließlich zu der Frage: "Wisst Ihr, Herr Rabe, warum ich nicht in das Schloss kann?"
Und der Rabe nickte: "Das Schloss ist Eure Kindheit. Es ist Vergangenheit. Dieser Ort kann Eure Zukunft nicht sein, auch wenn er erfüllt ist mit Wärme von dem, was war, wie der Körper eines Toten, den die Kälte nur langsam zu erfassen vermag."
Um sein Unbehagen zu verbergen, schnaubte der Graf ungehalten: "Nun, das ist ja sehr interessant, aber bei einer Sache bin ich mir sicher: Ich will aufwachen. Wenn sich dieser Traum nach dem richtet, was ich wünsche, wieso bin ich dann noch hier und muss mich von Euch belehren lassen?"
"Seid Ihr Euch sicher, Euer Herz so gut zu kennen, krak, hoher Herr?", an dieser Stelle verbeugte sich der Rabe, was sehr ungeschickt anmutete.
"Zu tun, was man will. Das kann so schwer sein, wie kaum einer ahnt, rak."
"Nun, ich WILL hier weg!" beharrte Wilbur und musste dennoch einen Widerspruch hinnehmen:
"Das mag sein, aber wollt ihr dort sein, wo ihr wieder seid, wenn ihr aufwacht?"
Der junge Graf musste an die Burgen denken, das dunkle Gebirge, die Toten, die auf seinen Befehl ihr Leben gelassen hatten. Mit Mühe konnte er ein Würgen zurückhalten bei dem Gedanken an den schrecklichen Geruch nach Blut, Angst, Schweiß und entleerten Därmen.
Der Vogel hatte Recht. Wieso hatte er Recht? Die Knie wurden ihm weich und kraftlos, Wilbur sank auf den Steg.
Neben sich hörte er wie der Rabe heftig flatternd auf dem Steg landete und mit krächzender Stimme verkündet: "Verwechselt Mitgefühl nicht mit einem Mangel an Mut. Es ist eines der Dinge, die einen einfachen Mann zu einem umsichtigen und gerechten Herrscher reifen lassen, wie Euer Vater es war."
Der junge Mann blickte den Raben an: "Mein Vater..."
"Viele bewundern ihn für das, was er vor seinem Tode tat, kraa. Aber wer mag zu erahnen, wie viel Arbeit und Weisheit es erfordert, einem Land den Frieden zu erhalten, rak? Ein Vater, ein Sohn. Ihr seid ein vom See - eine Familie mit diesem Land verwachsen, wie Wurzeln mit Erde und Stein. Könnt Ihr es spüren? Die kühlen Wasser des Angbarer Sees in Eurem Geist, die ehernen Berge in Euren Knochen, das wilde Rauschen des Großen Flusses in Euren Adern, das Lachen, die Trauer, die Kraft und Schwere des Lebens. Das alles sehnt sich nach einer besseren Zukunft, die die Dunkelheit vertreibt. Es ist Euer Schicksal, Euer Volk der Sonne entgegen zu führen und dabei auch Euer eigenes Licht zu finden."
Erstaunt starrte Wilbur den Raben an. Tatsächlich formten sich die Worte in seinem Inneren zu Bildern und als er an das Licht seiner Zukunft dachte, sah er Mechtessas liebliches Angesicht.
Doch während er sich noch dem Glücksgefühl hingab, welches er sich von seiner Zukunft malte, bemerkte er mit zunehmendem Grauen eine Veränderung, die in dem Raben vorging:
Der Vogel wuchs zu gewaltiger Größe, überragte ihn, selbst, wenn er stehen würde; die Federn verwandelten sich in ein kurzes, schwarzes Fell, der Schnabel wurde weicher, bildete Nüstern, aus denen heißer Odem dampft: Vor ihm steht ein ehrfurchtgebietender Rappe, der voller Kraft seine Hufe auf den Steg donnert, sodass die Erde zu beben scheint.
Mit dunkler Stimme verkündet das beeindruckende Tier: "Die Zukunft mag Euch erschrecken und manchmal mag es sein, dass Euer Herz blutet, wenn Ihr einen Befehl gebt. Doch gibt es Augenblicke, da dürft Ihr nicht zaudern, denn Nichts zu tun, kann noch größeres Leid bedeuten. Stellt Euch der Zukunft! Stellt Euch Eurer eigenen Kraft."
Und kaum glaubend, was er da tat und dennoch ohne Zögern, schwang sich Graf Wilbur auf den Pferderücken, spürte wie sich Muskeln anspannten, als würden sich Tampen unter seinen Schenkeln bewegen. Der Nebel riss auf und das kraftstrotzende Tier sprang der Sonne entgegen.